Das Geheimnis der dunklen Körper

Bis ins 18. Jahrhundert reicht die Ideengeschichte der schwarzen Löcher zurück

Schwarze Löcher bestehen nicht aus Materie, obwohl sie eine große Masse besitzen. Daher ließen sie sich bisher auch nicht direkt beobachten, sondern nur über die Wirkung ihrer Schwerkraft auf die Umgebung. Denn sie krümmen Raum und Zeit und besitzen eine geradezu unwiderstehliche Anziehung. Mit dem Event Horizon Telescope wurde jetzt erstmal der Schatten eines schwarzen Lochs aufgespürt. Kaum zu glauben, dass die Idee hinter solchen exotischen Objekten schon älter ist als 230 Jahre.

Text: Helmut Hornung

Die Wiege der schwarzen Löcher steht im beschaulichen Städtchen Thornhill in der englischen Grafschaft Yorkshire. Dort, neben der mittelalterlichen Kirche, lebte im 18. Jahrhundert John Michell. 26 Jahre lang war er hier Pfarrer und – wie man auf der Inschrift seines Denkmals in der Kirche lesen kann – auch als Gelehrter hoch angesehen. Tatsächlich hatte Michell in Cambridge nicht nur Theologie, Hebräisch und Griechisch studiert, sondern sich auch den Naturwissenschaften gewidmet.

Sein Hauptinteresse galt der Geologie. So behauptete er in einer Abhandlung, die nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 erschien, dass es unterirdische Wellen gebe, die ein solches Erdbeben verbreiten. Diese Theorie erregte in der wissenschaftlichen Welt einiges Aufsehen, und so wurde John Michell nicht zuletzt deswegen in die Royal Society in London aufgenommen.

Vor dieser renommierten Gesellschaft hielt er im Jahr 1783 einen Vortrag über die Schwerkraft von Sternen. Darin schilderte er in einem Gedankenexperiment, dass das Licht bei genügend großer Gravitation die Oberfläche eines sehr massereichen Sterns nicht verlassen würde. Und er folgerte: „Wenn ein solches Objekt in der Natur wirklich existieren sollte, könnte uns sein Licht niemals erreichen.“

Ein gutes Jahrzehnt nach Michell griff ein anderer Wissenschaftler das Thema auf: Der französische Mathematiker, Physiker und Astronom Pierre-Simon de Laplace beschrieb in seinem 1796 erschienenen Werk Exposition du Système du Monde die Idee schwerer Sterne, von denen Licht nicht entkommen könne; dieses Licht bestand nach der allgemein akzeptierten Theorie von Isaac Newton aus Korpuskeln, kleinsten Teilchen. Laplace nannte ein solches Objekt corps obscur, also dunkler Körper.

Die physikalischen Gedankenspiele von John Michell und Pierre-Simon de Laplace fanden allerdings kaum Widerhall und gerieten schnell in Vergessenheit. Erst Albert Einstein ebnete mit seiner allgemeinen Relativitätstheorie diesen „dunklen Körpern“ den Weg in die Wissenschaft – ohne es eigentlich zu wollen. Zwar ließ sich aus seinen im Jahr 1915 veröffentlichten Gleichungen die Existenz punktförmiger Singularitäten herleiten, in denen Materie und Strahlung aus unserer Welt einfach verschwinden. Doch im Jahr 1939 veröffentlichte Einstein in der Zeitschrift Annals of Mathematics einen Artikel, mit dem er beweisen wollte, dass solche schwarzen Löcher unmöglich seien.

Dabei hatte der Astronom Karl Schwarzschild schon 1916 – auf Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie – die Größe und das Verhalten eines nicht rotierenden und nicht elektrisch geladenen statischen schwarzen Lochs berechnet. Nach ihm ist der von der Masse eines solchen Objekts abhängige Radius benannt, innerhalb dessen nichts mehr nach außen dringen kann. Für die Erde würde dieser Radius etwa einen Zentimeter betragen, man müsste sie also auf Kirschgröße zusammendrücken.

Schwarzschild hatte in seinem kurzen Leben eine steile Karriere gemacht. Im Jahr 1873 als ältestes von sechs Kindern einer deutsch-jüdischen Familie in Frankfurt geboren, zeigte sich schon früh sein Talent. Als 16-Jähriger veröffentlichte er in einer renommierten Zeitschrift zwei Arbeiten zur Bahnbestimmung von Planeten und Doppelsternen. Später führte ihn seine astronomische Laufbahn über München, Wien und Göttingen nach Potsdam, wo er 1909 Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums wurde. Ein paar Jahre später mitten im Ersten Weltkrieg – Karl Schwarzschild war Artillerie-Leutnant an der Ostfront in Russland – fand er die exakten Lösungen für Einsteins Feldgleichungen. Er starb am 11. Mai 1916 an einer Autoimmunerkrankung der Haut.

Das Thema schwarze Löcher fand aber erst einmal nicht den Weg in die Wissenschaft. Überhaupt nahm das Interesse an dem Einsteinschen Gedankengebäude nach dem anfänglichen Hype immer mehr ab. Diese Phase dauerte ungefähr von Mitte der 1920er- bis Mitte der 1950er-Jahre an. Dann erfolgte das, was der Physiker Clifford Will als „Renaissance“ der allgemeinen Relativitätstheorie bezeichnete.

Nun wurde diese wichtig für die Beschreibung von Objekten, mit denen sich zunächst nur die Theoretiker beschäftigten: Weiße Zwerge etwa oder Neutronensterne, in denen die Materie in ganz extremen Zuständen vorliegt. Deren unerwartete Eigenschaften ließen sich mithilfe von neuen, der Theorie abgewonnenen Konzepten erklären. So rückten auch die schwarzen Löcher in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und Wissenschaftler, die sich mit ihnen beschäftigten, avancierten zu Stars – wie der im Jahr 2018 gestorbene englische Physiker Stephen Hawking.

Anfang der 1970er-Jahre brach mit Uhuru eine neue Ära der beobachtenden Astronomie an. Denn der Satellit musterte das Weltall im Bereich der extrem kurzwelligen Röntgenstrahlung. Uhuru entdeckte Hunderte von Quellen, meist Neutronensterne. Aber darunter war auch ein besonderes Objekt im Sternbild Schwan. Es erhielt die Bezeichnung Cygnus X-1. Dahinter, so fanden die Forscher heraus, steckt ein blau leuchtender Riesenstern von etwa 30 Sonnenmassen. Ihn umläuft ein unsichtbares Objekt von rund 15 Sonnenmassen – offenbar ein schwarzes Loch.

So lässt sich auch die empfangene Röntgenstrahlung erklären: Die Schwerkraft des schwarzen Lochs zieht die Materie des Hauptsterns an. Diese sammelt sich in einer sogenannten Akkretionsscheibe um das Massemonster, strudelt mit unvorstellbar hoher Geschwindigkeit um es herum, erhitzt sich aufgrund der Reibung auf einige Millionen Grad – und sendet Röntgenstrahlung aus, bevor sie in dem Raumzeit-Schlund verschwindet.

Cygnus X-1 ist bei Weitem nicht das einzige schwarze Loch, das die Astronomen indirekt nachgewiesen haben. Bis heute kennen sie eine ganze Reihe mit 4 bis 16 Sonnenmassen. Aber es gibt noch ein deutlich schwergewichtigeres. Es sitzt im rund 26.000 Lichtjahre entfernten Herzen der Milchstraße und wurde Ende der 1990er-Jahre entdeckt. Einer Gruppe um Reinhard Genzel vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik gelang im Jahr 2002 eine sensationelle Entdeckung: Am Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte (ESO) beobachteten die Wissenschaftler einen Stern, der sich dem galaktischen Zentrum bis auf eine Entfernung von nur 17 Lichtstunden (gut 18 Milliarden Kilometer) angenähert hatte.

In den Monaten und Jahren darauf konnten sie die Bahnbewegung dieses S2 genannten Sterns verfolgen. Er umläuft das Zentrum der Galaxis (Sagittarius A*) mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 5000 Kilometern pro Sekunde einmal in 15,2 Jahren. Aus der Bewegung von S2 und anderer Sterne schlossen die Astronomen, dass in einem Raumbereich von der Größe unseres Planetensystems rund 4,5 Millionen Sonnenmassen konzentriert sind. Für eine derartige Dichte gibt es praktisch nur eine plausible Erklärung: ein gigantisches schwarzes Loch.

Unsere Milchstraße ist keine Ausnahme: Die Wissenschaftler glauben, dass in den Zentren der meisten Galaxien solche Massemonster lauern – manche noch viel gewaltiger als das von Sagittarius A*. So etwa steckt in der Riesengalaxie Messier 87 ein schwarzes Loch von ungefähr 6,5 Milliarden Sonnenmassen! Auch dieses rund 55 Millionen Lichtjahre entfernte Sternsystem standen – ebenso wie Sagittarius A* – auf dem Beobachtungsprogramm des Event Horizon Telescope. Und tatsächlich wurden die Astronomen in der elliptischen Riesengalaxie M 87 fündig: Die am 10. April 2019 veröffentlichte erstmalige Beobachtung des Schattens gilt als erster direkter Nachweis einer galaktischen Schwerkraftfalle.

Schwarze Löcher machten aber schon ein paar Jahre zuvor von sich reden: Im September 2015 gingen den Forschern die von Albert Einstein vorausgesagten Gravitationswellen ins Netz; Quelle waren zwei verschmelzende Löcher mit 36 und 29 Sonnenmassen. Die 200 Jahr alte Geschichte der schwarzen Löcher ist also noch lange nicht zu Ende. Im Gegenteil: Mit diesen Beobachtungen beginnt eine neue Ära der Astronomie, die Licht ins dunkle Universum bringen soll - und auch die rätselhaften Massemonster erhellen wird.

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