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BREXIT und das europäische internationale Privat- und Verfahrensrecht

2. November 2016

Nun ist das worst case-Szenario eingetreten: Das Vereinigte Königreich wird (wahrscheinlich im Jahr 2019) die Europäische Union verlassen. Die wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen dieses Schritts haben die Agitatoren des Brexit offensichtlich nicht ansatzweise bedacht – aber auch die Europäische Union ist auf dieses Szenario wenig vorbereitet (was der EU freilich ungleich weniger vorzuwerfen ist).

 

Text: Burkhard Hess

Auch für das internationale Privat- und Verfahrensrecht sind die Folgen des Austritts offen. Sicher ist: Der Brexit wird für den Justizstandort London nachteilig sein. Viele Konsequenzen werden mit sofortiger Wirkung eintreten. Da sich der Inhalt eines möglichen Überleitungsabkommens derzeit nicht abschätzen lässt, ist es sinnvoll, von der Hypothese auszugehen, dass hier keine besonderen Übergangsregelungen geschaffen werden. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, anhand einiger ausgewählter Beispiele den Handlungsbedarf für die anstehenden Verhandlungen aufzuzeigen und nach unterschiedlichen politischen Optionen für die Europäische Union und das Vereinigte Königreich zu fragen.

Großbritannien wird zum Drittstaat

Mit dem Austritt Großbritanniens fallen die europäischen Rechtsinstrumente im Verhältnis zum Vereinigten Königreich fort, das Land wird aus der Sicht des Unionsrechts zum Drittstaat.

Weite Bereiche des modernen, europäischen Zivilverfahrensrechts werden im Vereinigten Königreich ersatzlos wegfallen: Das gilt etwa für das europäische Eheverfahrensrecht, für das europäische Insolvenzrecht, für das europäische Mahn- und Bagatellverfahren sowie für die neue europäische Patentgerichtsbarkeit, auf deren Einführung Großbritannien besonders gedrängt hat.

Auch die Bindung an die von der Europäischen Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge mit Drittstaaten entfällt. Dies gilt zumindest für diejenigen Verträge, welche die Union aufgrund ausschließlicher Außenkompetenzen abgeschlossen hat – dies ist im europäischen internationalen Privat- und Verfahrensrecht regelmäßig der Fall. Mit dem Austritt erlangt das Vereinigte Königreich die Abschlusskompetenz für entsprechende völkerrechtliche Verträge zurück, muss sie freilich jeweils neu aushandeln.

Auf das Vereinigte Königreich werden die EU Mitgliedstaaten künftig die unionsrechtlichen Regelungen für Drittstaaten anwenden oder, falls das Unionsrecht keine speziellen Regelungen vorsieht, das autonome Recht der Mitgliedstaaten. Es sei denn, es gibt bilateralen Rechtshilfeabkommen oder multilateralen Übereinkommen aus der Zeit vor dem Beitritt Großbritanniens zur EU – dann greifen diese.

Rückgriff in die 1960er Jahre

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn mit dem Brexit die europäische Regelung über die Zuständigkeit von Gerichten außer Kraft tritt. Sie wird dann durch frühere Anerkennungsverträge ersetzt. So existiert in diesem Bereich zwischen Großbritannien und Deutschland ein Abkommen aus dem Jahr 1960, das seinerzeit vor allem eine Begrenzung der damaligen Anerkennungshindernisse bezweckte. In den 1960er Jahren war es ein moderner Vertrag. Doch vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich erreichten Regelungen innerhalb der EU erscheint es als ein Anachronismus: An die Stelle des modernen Modells, welches durch wechselseitiges Vertrauen in die ordnungsgemäße Ausübung von Ziviljustiz, den Gebrauch von Formularen zur Vereinfachung grenzüberschreitenden Austauschs, die grundsätzliche Bereitschaft zur Anerkennung prinzipiell gleichwertiger Justizsysteme geprägt ist, wird künftig wieder ein unnötig formales Modell grenzüberschreitender Zivilrechtspflege treten, das eine flexible Handhabung auftretender Probleme im Dialog zwischen den befassten Richtern nicht kennt.

Aus der Perspektive von Parteien, welche London als Justizstandort gewählt haben, hat die Abkoppelung des Vereinigten Königreichs von der sog. europäischen Urteilsfreizügigkeit ganz erhebliche Auswirkungen. Künftig muss in jedem Einzelfall geprüft werden, wie englische Urteile auf dem Kontinent anerkannt und vollstreckt werden – eine rechtliche Fragmentierung, die Verzögerungen, Rechtsunsicherheit und Mehrkosten bewirkt. Einseitige Maßnahmen des britischen Gesetzgebers werden diese Nachteile nicht ohne weiteres auffangen können – auch wenn es denkbar erscheint, dass das englische internationale Verfahrensrecht künftig eng an die europäischen Verordnungen angepasst wird.

Sofortige Auswirkungen

Ein Missverständnis des Brexit betrifft die Annahme, dass während der Übergangszeit alles beim Alten bleibt. Vordergründig ändern sich die rechtlichen Rahmenbedingungen zunächst nicht. Dennoch müssen ab sofort Parteien bei der Vertragsgestaltung (sprich: bei der Abfassung von Streitbeilegungsklauseln) den anstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs mitbedenken. Vor diesem Hintergrund ist bereits heute von einer unbesehenen Vereinbarung der Zuständigkeit Londoner Gerichte abzuraten.

Praktische „Vorwirkungen“ entfalten schon jetzt die Beschränkungen von Gerichtsstands- und Schiedsvereinbarungen im europäischen Finanzmarktrecht. Hier verbietet eine Verordnung Finanzdienstleistern aus Drittstaaten explizit, einen Gerichtsstand bzw. Schiedsverfahren in Drittstaaten zu vereinbaren. Diese Vorschriften lösen unmittelbaren Handlungsbedarf aus: Streitbeilegungsklauseln in aktuell gehandelten Finanzinstrumenten und Wertpapieren müssen an die kommende Rechtslage angepasst werden. Eine eventuell vorhandene Vereinbarung von London als Gerichts- oder Schiedsort sollte vorsorgend zugunsten anderer Gerichtsorte auf dem Kontinent (oder in Irland) abgeändert werden.

Die Beschränkungen des europäischen Kapital- und Finanzmarktrechts betreffen den Justizstandort London ganz unmittelbar. Speziell im Marktsegment des Banken-, Kapitalmarkt- und Versicherungsrechts entscheiden derzeit Londoner Gerichte einen Großteil aller Streitigkeiten im europäischen Justizraum. Wenn die Stadt nun nicht mehr als Gerichtsstand festgelegt werden darf, hat das Auswirkungen auch auf andere Rechtsbereiche.

Insolvenzrecht

Speziell im grenzüberschreitenden Insolvenz- und Restrukturierungsgeschäft hält der englische Rechtsdienstleistungsmarkt derzeit erhebliche Anteile. Mit dem Brexit dürfte sich das ändern. Denn zum Stichtag wird das zentrale Koordinierungsinstrument, die Europäische Insolvenzverordnung entfallen. Es ist ungewiss, ob das Vereinigte Königreich die modernisierte Verordnung 2017 überhaupt umsetzen wird; laufende Verfahren dürften noch nach der alten Fassung von 2002 abgeschlossen werden. Mangels internationaler Übereinkommen kommt nach dem Brexit das autonome internationale Insolvenzrecht der EU-Mitgliedstaaten zur Anwendung. Im Ergebnis dürfte eine grenzüberschreitende Anerkennung und Koordinierung von Insolvenzverfahren zwar nicht ausgeschlossen sein, sie wird jedoch mit erheblicher Rechtsunsicherheit befrachtet.

Ehe- und Kindschaftsrecht

Zum Stichtag des Austritts entfällt auch die sogenannte Brüssel IIa-Verordnung, die innerhalb der EU die Zuständigkeit der Gerichte in Ehe- und Kindschaftssachen regelt. Dies dürfte sich ebenfalls auf den Justizstandort London als „capital of divorce“ auswirken: Derzeit scheiden englische Gerichte überproportional viele Ehen  von „Superreichen“. Dabei wird die europäische Scheidungsverordnung kreativ genutzt. Der Brexit wird dies ändern: An Stelle der Verordnung ließe sich das Haager Übereinkommen von 1970 reaktivieren, das die Anerkennung von Ehescheidungen und die Trennung von Tisch und Bett regelt. Es wurde jedoch von Deutschland nicht ratifiziert. Im deutsch-britischen Verhältnis gelten dann das Familienverfahrensgesetz sowie ein bilaterales Abkommen von 1960, das Familien- und Statussachen einbezieht. Allerdings werden darin nur Entscheidungen „oberer Gerichte“ anerkannt, was die auf der Ebene der Amtsgerichte eingerichteten Familiengerichte nicht einschließt. Hier dürfte auch für den deutschen Gesetzgeber Anpassungsbedarf bestehen.

In Kindschaftssachen führt der Wegfall der europäischen Verordnung hingegen nicht unmittelbar zu Regelungslücken, da das Vereinigte Königreich das Haager Kindesschutzübereinkommen sowie das Haager Kindesentführungsübereinkommen ratifiziert hat. Diese Übereinkommen bleiben anwendbar; es entfällt freilich das in der EU geregelte beschleunigte Rückführungsverfahren. Das bedeutet auch, dass bekannte Vollzugsdefizite des Haager Übereinkommens im Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich wieder auftreten werden.

Europäische Patentgerichtsbarkeit

Weiter hat der Austritt des Vereinigten Königreichs zur Folge, dass das einheitliche europäische Patent dort nicht anwendbar ist. Da das europäische Patentgericht als ein Gericht der teilnehmenden EU-Vertragsstaaten ausgestaltet ist, kann sich das Vereinigte Königreich an dem Streitbeilegungssystem nicht beteiligen. Dementsprechend werden weder Richter noch Rechtsanwälte aus dem Vereinigten Königreich im Europäischen Patentgericht tätig werden – Parteien aus dem Vereinigten Königreich können zur Wahrung ihrer Rechte dort selbstverständlich auftreten. Die bereits in London angemieteten Räumlichkeiten für die zentrale Abteilung des Europäischen Patentgerichts für chemische und pharmazeutische Patente werden nicht bezogen werden, da diese Abteilung des Europäischen Patentgerichts in einen der teilnehmenden Mitgliedstaaten (voraussichtlich nach Italien) verlagert wird. Im Ergebnis wird der Justizstandort London einen äußerst profitablen Markt hochwertiger Streitigkeiten verlieren.

Rechtskulturelle Verluste des Brexit

Der Brexit stellt das internationale Privat- und Verfahrensrecht vor große Herausforderungen, von denen hier nur einige Beispiele erläutert werden konnten. Letztlich werden sich die technischen Probleme eines Austritts jedoch bewältigen lassen – selbst wenn kein detailliertes Übergangsregime geschaffen werden sollte.

Trotzdem bedeutet der Austritt des Vereinigten Königreichs für das europäische Privat- und Verfahrensrecht, besonders für Zivilverfahren, einen großen rechtskulturellen Verlust bedeuten – denn aus Großbritannien hat das europäische Zivilverfahrensrecht nachhaltige Impulse erfahren. Die kontinentale Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, den Europäischen Gerichtshof eingeschlossen, wurden mit den andersartigen Konzeptionen des Common Law konfrontiert. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es sich nicht nur auf Gesetze, sondern auf maßgebliche richterliche Urteile der Vergangenheit – Präzedenzfälle – stützt und dass es auch durch richterliche Auslegung weitergebildet wird. In keinem anderen EU-Mitgliedstaat wurde bisher so detailliert und scharfsinnig über die Auslegung von Gerichtsstandsklauseln prozessiert wie in England. Die Argumentationskraft britischer Juristinnen und Juristen wird fehlen, der dogmatische und zugleich pragmatische Sinn des Common Law für machbare Lösungen hinterlässt Lücken.

Daher bleibt es zu hoffen und zu wünschen, dass es den nunmehr verantwortlichen Politikern in Großbritannien und den Akteuren auf dem Kontinent gelingt, die politischen Folgen eines unbedachten Referendums abzuwenden, welches in dieser Form von der Verfassung des Vereinigten Königreichs gar nicht vorgesehen ist. Es sollte daher weniger rechtliche Durchschlagswirkung entfalten als auf politischer Ebene vorschnell behauptet wird. Kurz gesagt: ein „Exit from Brexit“ muss das vorrangige politische Ziel bleiben, um die erreichten Fortschritte der Union zu bewahren und um weitere Ziele der Europäischen Integration zu verwirklichen – im Interesse der Demokratien und der Bürger Europas.

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