Rosettas Endspurt zum Kometen
Nach zehnjähriger Reise und langem Tiefschlaf war die Raumsonde Rosetta am 20. Januar erwacht. Am Abend meldete sich das Vehikel mit einem Signal im Kontrollzentrum in Darmstadt. Damit begann die letzte Etappe, die zum Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko führt. Auf dessen Oberfläche soll am 12. November die Landeeinheit Philae niedergehen.
Tief im Weltall, etwa 814 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, klingelte am 20. Januar ein Wecker: Um 11 Uhr Mitteleuropäischer Zeit setzte eine Zeitschaltuhr an Bord der ESA-Raumsonde Rosetta eine Serie interner Kommandos in Gang. Die Navigationsinstrumente wurden langsam erwärmt und begannen sich am Sternenhimmel zu orientieren; die Sonde, die bisher um die eigene Achse rotierte, stabilisierte sich, richtete ihre Hauptantenne zur Erde aus und funkte dann – erstmals nach mehr als 30-monatigem Winterschlaf – ein Signal zur Erde. Um 19.18 Uhr traf die erlösende Botschaft in der Bodenstation der europäischen Raumfahrtagentur in Darmstadt ein: Alles okay, Rosetta ist wach!
Der elektronische Weckruf war weit mehr als ein ungewöhnlicher technischer Vorgang aus der Welt der Raumfahrt. Vielmehr läutete er die letzte Etappe einer mehr als zehnjährigen Reise durchs Sonnensystem ein. An deren Ende steht im August dieses Jahres die einzigartige Begegnung der europäischen Raumsonde mit dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko, von den Wissenschaftlern kurz 67P genannt.
Anders als bei allen früheren Missionen, bei denen die Sonden mit hohen Geschwindigkeiten am jeweiligen Kometen vorbeirasten, wird diese Begegnung alles andere als flüchtig. Mindestens bis Ende Dezember 2015 wird Rosetta um „ihren“ Kometen kreisen, ihn auf seinem Weg in Richtung Sonne begleiten und mithilfe ihrer elf wissenschaftlichen Bordinstrumente aus nächster Nähe untersuchen.
Der Höhepunkt der Mission: Im November dieses Jahres soll die Landeeinheit Philae, ausgestattet mit neun weiteren Experimenten, auf der Kometenoberfläche aufsetzen – ein Novum in der Geschichte der Weltraumfahrt.
Bevor es soweit ist, nutzte Rosetta die verbleibende Anflugphase, um alle Systeme und Instrumente Schritt für Schritt zum Leben zu erwecken. Kalibrieren, testen, optimieren: Auch am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau begann im Winter die heiße Phase der Mission. Die Wissenschaftler leiten und überwachen drei Instrumente: das Kamerasystem OSIRIS und den Staubanalysator COSIMA an Bord des Rosetta-Orbiters sowie den Gasanalysator COSAC auf der Landeeinheit Philae.
Zudem haben die Max-Planck-Wissenschaftler maßgebliche Teile der Landeeinheit wie etwa den Abstoßungs- und Dämpfungsmechanismus entwickelt und gebaut sowie zu fünf weiteren Instrumenten Hardware-Komponenten beigetragen.
Auch der Winterschlaf des zweiten Akteurs in der bevorstehenden Begegnung, des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko, neigt sich dem Ende zu. Unaufhaltsam dringt der Schweifstern ins innere Sonnensystem vor. Wie alle Kometen der Jupiterfamilie verbringt 67P den Großteil seines Daseins in den eisigen Tiefen des Planetensystems in einem ähnlichen Abstand von der Sonne wie der Gasriese Jupiter. Dort zeigen sich diese Himmelskörper oft als tote Klumpen aus gefrorenen Gasen wie Wasser und Kohlendioxid sowie Stein.
Ihren Ursprung haben 67P und seine Familienmitglieder wahrscheinlich im sogenannten Kuiper-Gürtel, einer ringförmigen Region am äußersten Rand unseres Planetensystems jenseits der Neptunbahn. Sie ist mehr als 30-mal so weit von der Sonne entfernt wie die Erde und mit Tausenden kosmischer Brocken bevölkert, wie Modellrechnungen nahelegen. Durch den Einfluss des Neptuns verlagert sich die Bahn einzelner Körper nach und nach zu den anderen Gasriesen im Planetensystem bis hin zu Jupiter.
„Trotz dieser Wanderung – und der möglicherweise vorangegangenen Kollisionen – gehören Kometen der Jupiterfamilie zu dem unverfälschtesten Material, das aus der Geburtsstunde des Sonnensystems vor mehr als 4,6 Milliarden Jahren erhalten ist“, sagt Ulrich Christensen, Direktor am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung.
Während sich besonders die inneren Planeten durch die Hitze und unter dem Teilchenbeschuss von der Sonne stark veränderten und etwa flüchtige Bestandteile verloren, waren diese über Milliarden von Jahren im Eis der Kometen gespeichert.
Für Forscher zugänglich wird diese gefrorene Urmaterie, wenn sich der Komet auf seiner Bahn der Sonne nähert. Bei 67P ist das etwa alle sechseinhalb Jahre der Fall. Die Oberfläche erwärmt sich, Wasser und andere gefrorene Gase verdampfen und reißen winzige Staubteilchen mit sich. Der Komet wird aktiv, bildet eine Atmosphäre und den charakteristischen Schweif aus.
Dieses Kometenmaterial soll Rosetta genauer als je zuvor untersuchen. „Die Raumsonde ist eine Art Labor, das vor Ort am Kometen betrieben wird“, sagt Max-Planck-Forscher Martin Hilchenbach, Leiter des COSIMA-Teams. COSIMA ist eines jener Instrumente, das speziell dem Kometenstaub einen Teil seiner Geheimnisse entlocken soll.
In den mikroskopischen, blumenkohlförmigen Poren weniger Millimeter großer Träger sammelt der kosmische Staubfänger einzelne Partikel, die unter einem Mikroskop zunächst geortet und dann mit Indiumionen beschossen werden. Die Ionen, die sich auf diese Weise aus der Oberfläche der Staubpartikel lösen, lassen sich dann weiter analysieren. „Dabei können wir nicht nur einzelne Elemente, sondern vor allem auch organische Moleküle identifizieren“, so Hilchenbach.
Kometen enthalten viele organische Verbindungen. Selbst komplexe Strukturen wie Aminosäuren, die Bausteine der Eiweiße, hat man entdeckt. Wissenschaftler halten es deshalb für möglich, dass Kometeneinschläge einst der jungen Erde solche Stoffe lieferten – und mit ihnen die Bausteine des Lebens. „Rosetta eröffnet uns nicht nur die Möglichkeit, die genauen Verhältnisse und Mengen der organischen Bestandteile zu bestimmen“, so Hilchenbach. „Erstmals können wir auch genau verfolgen, wie sich die Zusammensetzung der Staubteilchen mit der Aktivität des Kometen entwickelt.“
In der Tat ist das vielleicht der revolutionärste Aspekt der Rosetta-Mission: Sie eröffnet der weltraumgestützten Kometenforschung die vierte Dimension, die Zeit. „Alle Aufnahmen und Messergebnisse, die uns von bisherigen Kometenvorbeiflügen vorliegen, sind eigentlich Schnappschüsse“, sagt Ulrich Christensen. Momentaufnahmen aus einer komplexen und langen Entwicklung, die sich im Kometen bei seiner Reise um die Sonne vollzieht. Erst Rosetta wird es ermöglichen, diese Entwicklungen und Prozesse mitzuerleben: „Am Ende der Mission werden wir keinen Kometen so gut kennen wie 67P.“
Umso kurioser ist es, dass Churyumov-Gerasimenko fast zufällig zum Zielkometen von Rosetta wurde, fast als eine Art Lückenbüßer. Denn zunächst hatte die ESA einen anderen Kandidaten ins Augen gefasst: den Kometen 46P/Wirtanen. Doch als 2003 der Start der Raumsonde wegen Problemen mit der Trägerrakete Ariane 5 verschoben werden musste, waren die Forscher gezwungen, sich nach einem neuen Zielkometen umzusehen.
Die Wahl fiel schließlich auf 67P/Churyumov-Gerasimenko, einen unregelmäßig geformten, offenbar zweigeteilten Körper mit einem mittleren Durchmesser von etwa vier Kilometern. Wie die Bahn von Wirtanen ist die von Churyumov-Gerasimenko kaum gegen jene der Erde geneigt und lässt sich aus diesem Grund recht Treibstoff sparend erreichen.
Der unscheinbare Brocken, der sich 1969 am Institut für Astrophysik in Alma Ata auf einer Fotoplatte seiner Entdecker Klim Iwanowitsch Churyumov und Swetlana Gerasimenko erstmals abzeichnete, wird nun Raumfahrtgeschichte schreiben. Im November dieses Jahres soll Philae, die dreibeinige Landeeinheit von Rosetta, auf seiner Oberfläche aufsetzen.
„Was Philae dort erwartet, ist sehr ungewiss“, sagt Christensen. Feiner Staub, in dem die Füße der Sonde einsinken? Oder große Steinblöcke, die bei der Landung zu Stolperfallen werden können? „Die genaue Oberflächenbeschaffenheit, selbst die Dichte des Kometen ist völlig unbekannt.“ Rosetta jedenfalls ist ein einzigartiges Abenteuer. Ein Abenteuer, das am 20. Januar 2014 mit einem Weckruf im All in seine entscheidende Phase trat.
BK / HOR