Tiefschlaf in der Arktis
Welches Tier ist Energiesparweltmeister? Am CAS-MPG Partnerinstitut in Shanghai erforschen Wissenschaftler, welche Gene Arktische Ziesel während ihres Winterschlafs aktivieren oder still legen
Für die Tiere in kalten Regionen der Erde ist Energiesparen im Winter überlebenswichtig. Energiesparweltmeister ist dabei ein kleines Murmeltier-ähnliches Nagetier aus der Arktis. Für Jun Yan vom Partnerinstitut der Max-Planck-Gesellschaft und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) in Shanghai ist der Arktische Ziesel deshalb hervorragend geeignet, die Veränderungen auf Molekülebene während des Winterschlafs der Nagetiere zu untersuchen. Er will so herausfinden, wie die Tiere ihren Stoffwechsel so dramatisch herunterfahren können.
Text: Harald Rösch
Wenn es Winter wird rund um den Toolik See in Nordalaska, kommt fast alles Leben zum Stillstand. Bei Temperaturen von minus 50 Grad fegen eisige Stürme über die verschneiten Berghänge und das Land versinkt in der Dunkelheit der arktischen Nacht. Ein Wunder, dass Tiere unter diesen lebensfeindlichen Umständen überhaupt überleben können.
Manche überstehen diese Zeit nur, indem sie ihren Stoffwechsel drastisch herunterfahren: Sie verschlafen den Winter einfach in Schneehöhlen oder unter der Erde. Auch der Arktische Ziesel (Urocitellus parryii) ist so ein Überlebenskünstler. Der kleine Nager hat es mit dem Energiesparen allerdings auf die Spitze getrieben: Auf ein bis zwei Prozent der normalen Rate können sie ihren Stoffwechsel absenken.
Nachdem sich die in Kanada, Alaska und Sibirien vorkommenden Tiere im Herbst genügend Fettreserven angefressen haben, ziehen sie sich tief in ihre Bauten zurück bereiten sich auf eine lange Ruhephase vor. Ihr Herz arbeitet immer langsamer, bis es nur noch einmal pro Minute schlägt. Auch das Gehirn schaltet sich fast vollständig ab und verfällt in eine Art Stand by-Modus. Die Körpertemperatur sinkt von 37 auf minus drei Grad ab, ohne das ihr Blut gefriert. Damit sind sie der unbestrittene Rekordhalter im Tierreich mit der niedrigsten Körpertemperatur. Bis zu acht Monate können sie so überdauern. In dieser Zeit wachen die Ziesel nur zweimal im Monat für ein paar Stunden auf. Ohne diese kurzen Aufwachphasen nimmt das Gehirn offenbar unwiderruflich Schaden.
Diese extreme Anpassung des Stoffwechsels macht den Arktischen Ziesel für den aus Shanghai stammenden Jun Yan zum perfekten Studienobjekt. Zusammen mit Brian Barnes vom Institute of Arctic Biology in Fairbanks, Alaska, hat er den Winterschlaf der Ziesel erforscht. Mehrere Dutzend der kleinen Nager leben in den Labors des Instituts in Alaska. Bei 20 Grad Raumtemperatur und einem 16-Stundentag erfreuen sie sich an hochwertigem Nagerfutter, Apfelschnitzen und Karotten.
Für ihre Studien senken die Forscher die Raumtemperatur auf fünf Grad ab und schalten das Licht schon nach vier Stunden täglich aus. Für die Ziesel ist das das Signal zum Winterschlaf. Während die Tiere schlafen, entnehmen die Forscher Gewebeproben und analysieren die Aktivität von Genen und die Menge an Protein.
Auf diese Weise haben sie entdeckt, dass die Ziesel während des Winterschlafs die Produktion vieler Proteine ankurbeln oder drosseln. Dazu haben sie mithilfe der Massenspektrometrie mehr als 3000 Proteine in der Leber der Tiere identifiziert. Rund 500 davon werden im Winter stärker oder schwächer gebildet. So sind Proteine für den Abbau von Kohlenhydraten und die Bildung von Fettsäuren während des Winterschlafs weniger vorhanden, dafür werden mehr Proteine für den Abbau von Fettsäuren gebildet. „Die Tiere können so in den langen Wintermonaten ihre Fettreserven zur Energiegewinnung nutzen. Im Sommer brauchen sie dann wieder diese Proteine zur Verwertung der pflanzlichen Nahrung und zur Fettproduktion für den nächsten Winter“, sagt Yan.
Die Untersuchungen der Forscher zeigen zudem, dass sich aus der Häufigkeit einer Boten-RNA oft nicht auf die Menge des entsprechenden Proteins rückschließen lässt. Die Aktivität eines Gens sagt demnach nicht zwangsläufig etwas darüber aus, wie stark das zugehörige Protein gebildet wird. Die Ziesel müssen folglich während des Winterschlafs noch andere Möglichkeiten nutzen, um die Proteinproduktion zu steuern.
Deshalb haben die Wissenschaftler sogenannte mikroRNA-Moleküle (miRNAs) genauer unter die Lupe genommen. Diese kleinen, nur 19 bis 25 Basenpaare langen Moleküle blockieren die Boten-RNAs, die von den Genen abgelesen werden und die die Vorlage für Proteine liefern. Auf diese Weise können die miRNAs die Bildung von Proteinen selbst dann verhindern, wenn deren Gene aktiv sind und abgelesen werden. miRNAs sind also wichtige Regulatormoleküle, mit denen die verschiedenen Zelltypen eines Organismus die Proteinproduktion kontrollieren.
Jun Yan und sein Team haben allein in der Leber der Ziesel mehr als 200 miRNAs entdeckt, davon 18 bislang unbekannte Moleküle. Wie stark eine miRNA gebildet wird, hängt davon ab, ob sich die Tiere gerade im Winterschlaf befinden oder nicht. In der Leber beispielsweise werden manche der Moleküle während der Schlaf- und Aufwachphasen deutlich weniger gebildet. Andere dagegen sind in großen Mengen vorhanden – allerdings nur, wenn die Tiere tatsächlich schlafen. In den kurzen Wachphasen während des Winterschlafs sinken die Werte wieder ab. „Unsere Analysen haben ergeben, dass einige dieser miRNAs das Zellwachstum kontrollieren. So können die Tiere verhindern, dass während des Winterschlafs Tumore entstehen“, erklärt Yan.
Als nächstes haben die Forscher ein umfassendes Genprofil der Arktischen Ziesel im Winterschlaf erstellt. Etwa 500 Gene werden dabei aktiviert. „Das ist die genetische Signatur des Winterschlafs bei diesen Tieren“, sagt Yan. Um mehr über die Funktion dieser Gene zu erfahren, verglichen die Wissenschaftler sie mit Genen, die bei Mäusen während Hungerperioden, Schlafmangel und nach Durchblutungsstörungen angeschaltet werden. Obwohl jeder dieser Zustände sich von den physiologischen Bedingungen des Winterschlafs unterscheidet, durchleben die Ziesel sie beim Winterschlaf in ähnlicher Form. Entsprechend überlappen auch die jeweiligen Genprofile. So entsprechen die Aktivitätsschwankungen von Genen beim Übergang von Schlaf-Wach-Phasen während des Winterschlafs denen von Mäuse-Genen, die auf Tag-Nacht-Schwankungen und kalte Umgebungstemperaturen reagieren.
Yan und sein Team haben auf diese Weise festgestellt, dass Mäuse, die über Wochen oder Monate nur zehn bis 40 Prozent der normalen Kalorien täglich zu sich nahmen, teilweise die gleichen Gene an- oder abschalten wie die Ziesel im Winterschlaf. Gene für die Bildung des Speicherkohlenhydrats Glukose werden beispielsweise in beiden Fällen aktiviert, Gene für die Produktion von Fettsäuren dagegen stillgelegt. Offenbar ist der Transkriptionsfaktor PPARα an dieser Änderung des Fettstoffwechsels beteiligt. PPARα beschleunigt den Abbau von Fettsäuren und hemmt die Bildung neuer, energieaufwändiger Fettmoleküle.
Im Unterschied dazu wird der Fettstoffwechsel bei Durchblutungsstörungen nicht verändert. In den Phasen der Kältestarre während des Winterschlafs werden die verschiedenen Gewebe der Ziesel kaum durchblutet. In den Aufwachphasen steigt dann der Blutfluss ähnlich wie bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall stark an. „Anders als bei einem Infarkt verursacht dieser Anstieg der Durchblutung bei den schlafenden Zieseln keine Gewebeschäden. Wir vermuten, dass der erhöhte Fettstoffwechsel solche Schäden verhindert.“ Außerdem bleiben bei Zieseln im Winterschlaf Gene aktiv, die Proteine mit sogenannten Ubiquitin-Anhängen versehen und sie so für die zelleigene Abbau-Maschinerie freigeben. Bei Mäusen dagegen sind diese Gene nach einer Unterversorgung mit Sauerstoff deutlich weniger aktiv.
Der Winterschlaf der Arktischen Ziesel ist also nicht nur ein für Zoologen faszinierendes Phänomen. Die Forscher können auch viel davon über den menschlichen Körper und Erkrankungen lernen. „Die Arktischen Ziesel überstehen lange Phasen ohne Nahrung, bei niedrigen Körpertemperaturen und gedrosselter Sauerstoffversorgung und Durchblutung scheinbar ohne Schäden. Aus dem Wissen, wie ihnen das gelingt, könnten eines Tages neue Behandlungen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt oder Schlaganfall entstehen“, sagt Yan.