Bewegungsschichten im Gehirn

Neurobiologen entdecken elementare Bewegungsdetektoren in der Fliege

7. August 2013
Das Erkennen einer Bewegung und ihrer Richtung ist einer der ersten und wichtigsten Verarbeitungsschritte in jedem visuellen System. Nur so können nahende Feinde erkannt oder die eigene Bewegung kontrolliert werden. Seit über 50 Jahren sagt ein mathematisches Modell präzise voraus, wie der elementare Bewegungsdetektor im Gehirn aufgebaut sein müsste. Welche Nervenzellen dazu jedoch wie verschaltet sind, das blieb ein Rätsel. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried bei München sind nun diesem "Heiligen Gral der Fliegenforschung" einen entscheidenden Schritt näher gekommen: Sie haben die Zellen des elementaren Bewegungsdetektors im Fliegenhirn identifiziert. Die Ergebnisse zeigen, dass das Gesehene zunächst in zwei separate Verarbeitungsbahnen aufgetrennt wird. Bewegungen werden dann innerhalb dieser Bahnen nach ihrer Richtung sortiert und unabhängig voneinander weiterverarbeitet.

Vor beinahe 100 Jahren warf der berühmte Neuroanatom Ramón y Cajal einen Blick ins Fliegengehirn und entdeckte dort eine Reihe von Zellen, die er als "merkwürdige Elemente mit zwei Büscheln" beschrieb. Etwa 50 Jahre später postulierte der deutsche Physiker Werner Reichardt aufgrund seiner Verhaltensexperimente an Fliegen die Existenz sogenannter "elementarer Bewegungsdetektoren".  Diese Detektoren vergleichen an jedem Punkt im Blickfeld die Helligkeitsänderungen zwischen zwei benachbarten Facetten des Fliegenauges. Daraus wird dann die Richtung einer lokalen Bewegung errechnet. Soweit die Theorie. Seitdem spekuliert die Gemeinde der Fliegenforscher, ob die von Cajal beschriebenen "Büschel-Zellen" diese mysteriösen elementaren Bewegungsdetektoren sind.

Die Antwort auf diese Frage ließ lange auf sich warten, denn die Büschel-Zellen sind extrem klein. Viel zu klein, um sie mit einer Elektrode anzustechen und ihre elektrischen Signale einzufangen. Nun gelang Alexander Borst und seinen Mitarbeitern vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie der Durchbruch mit Hilfe eines Kalzium-Indikators. Diese fluoreszierenden Proteine werden von den Nervenzellen selbst gebildet und ändern ihre Helligkeit, wenn die Zelle aktiv ist. So war es den Wissenschaftlern endlich möglich, die Aktivität der Büschel-Zellen unter dem Mikroskop zu sehen und zu messen. Die Ergebnisse belegen, dass diese Zellen tatsächlich die von Werner Reichardt vorhergesagten elementaren Bewegungsdetektoren sind.

Wie weitere Experimente zeigten, lassen sich die Büschel-Zellen in zwei Gruppen aufteilen: Die eine Gruppe (T4-Zellen) reagiert nur auf einen bewegten Übergang von dunkel zu hell, die andere Gruppe (T5-Zellen) wird umgekehrt nur bei Hell-Dunkel-Kanten aktiv. Innerhalb jeder Gruppe gibt es vier Untergruppen, die jeweils nur auf Bewegungen in eine bestimmte Richtung ansprechen – nach rechts, links, aufwärts oder abwärts. Die Nervenzellen dieser richtungsselektiven Gruppen geben ihre Informationen in sauber voneinander getrennte Schichten des nachfolgenden Nervengewebes ab. Die hier ansässigen großen Nervenzellen nutzen diese Signale dann zur visuellen Kurssteuerung und geben zum Beispiel entsprechend Befehle an die Flugmuskulatur weiter. Letzteres konnten die Wissenschaftler eindrucksvoll belegen: Blockierten sie die T4-Zellen, so waren sowohl die nachgeschalteten Nervenzellen als auch die Fliegen in Verhaltenstests blind für Bewegungen von Dunkel-Hell-Kanten. Beim Blockieren von T5-Zellen wurden Hell-Dunkel-Kanten nicht mehr wahrgenommen.

Im Gespräch über ihre gerade im Fachjournal Nature erschienenen Forschungsergebnisse zeigten sich die beiden Erstautoren der Studie, Matt Maisak und Jürgen Haag, sehr beeindruckt von der „säuberlich aufgedröselten“ aber „hoch geordneten“ Bewegungsinformation im Fliegengehirn. Alexander Borst, der Leiter der Studie, fügt hinzu: „Das war echtes Teamwork – fast alle Mitarbeiter meiner Abteilung waren an den Experimenten beteiligt: Die eine Gruppe machte die Kalzium-Messungen, die andere die Elektrophysiologie, eine dritte die Verhaltensmessungen. Alle zogen an einem Strang. Das war eine wunderbare Erfahrung.“ Ähnlich soll es weitergehen, denn die Wissenschaftler wenden sich schon der nächsten Mammutaufgabe zu: Nun wollen sie die Nervenzellen identifizieren, die die Eingangssignale für die elementaren Bewegungsdetektoren liefern. Laut Reichardt müssen hier die beiden Signale, die von benachbarten Facetten des Auges kommen, zeitlich gegeneinander verzögert sein. „Das wird jetzt wirklich spannend!“, so Alexander Borst.

SM/HR

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