Nervenzellen im optischen Fluss
Nervenzellen gleichen Unterschiede im optischen Input über zellinterne Verstärker aus
Tiere und Menschen können sich meist recht gut durch eine dreidimensionale Umwelt bewegen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren oder überall anzustoßen. Neben den Gleichgewichtsorganen helfen hier vor allem die Augen. Jede Bewegung lässt die Umwelt auf charakteristische Weise an den Augen vorbeiziehen, und Nervenzellen berechnen daraus die eigene Bewegung. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie zeigen nun an Fliegen, wie es Nervenzellen gelingt, die Eigenbewegung vor ganz unterschiedlich komplexen Hintergründen zu berechnen. Eine Vorgabe, bei der bisher gängige Modelle zur optischen Verarbeitung versagten. (Neuron, 25. August 2010)
Menschen und Fliegen haben eine große Gemeinsamkeit - sie verlassen sich bei der Orientierung im Raum stark auf ihre Augen. Das funktioniert äußerst zuverlässig, obwohl sich die visuellen Eindrücke ständig verändern. Gehe ich zum Beispiel an einer weißen Wand vorbei, so sehe ich an den kleinen Unebenheiten, die entgegen meiner Laufrichtung an meinen Augen vorbeiziehen, dass ich vorwärts gehe. Laufe ich nun an einer bunt beklebten Plakatwand vorbei, so zieht ein Vielfaches an Farb- und Strukturveränderungen an meinen Augen vorbei. Obwohl die visuellen Informationen sehr unterschiedlich sind, nehme ich in beiden Fällen zuverlässig wahr, dass ich mich mit einer bestimmten Geschwindigkeit vorwärts bewege. So entpuppt sich bei genauerer Betrachtung etwas Alltägliches als beachtliche Leistung unseres Gehirns.
Um zu verstehen, wie Nervenzellen optische Informationen verarbeiten, untersuchen Neurobiologen die Gehirne von Fliegen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Fliegen sind Meister in der Verarbeitung optischer Bewegungen und ihre Gehirne sind relativ überschaubar. So kann die Funktion jeder einzelnen Nervenzelle in einem Netzwerk untersucht werden. In Laborversuchen zeigen die Wissenschaftler den Fliegen bewegte Streifenmuster und messen die Reaktionen einzelner Nervenzellen. Auf diese Weise sind Modelle entstanden, die sehr gut beschreiben, auf welchen Reiz eine Nervenzelle reagiert und was sie an nachfolgende Zellen weitergibt. Diese Modelle versagten jedoch, wenn die vorgespielten Muster stark in ihrer Komplexität variierten.
"Die Modelle berücksichtigten nur die Eingangs-Ausgangs-Beziehung der Nervenzellen; wie die Signale innerhalb der Zelle dabei verarbeitet werden, spielte keine Rolle", erklärt Alexander Borst, der mit seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried die Vorgänge im Fliegenhirn untersucht. Dass die Vorgänge in der Nervenzelle jedoch sehr wohl wichtig sind, zeigt jetzt sein Doktorand Franz Weber. Gemeinsam mit Christian Machens von der Ecole Normale Superieure in Paris entwickelte er ein Modell, das sowohl die Funktion (Input/Output) als auch die biophysikalischen Eigenschaften der Zelle berücksichtigt.
Franz Weber zeigte den Fliegen bewegte Punktmuster mit verschiedener Punktdichte. Dabei fand er heraus, dass die Nervenzellen bei hoher und niedriger Punktdichte grundsätzlich gleich reagieren. Das ist erstaunlich, denn bei wenigen Punkten erhält eine Nervenzelle deutlich weniger visuelle Bewegungsinformation als bei hoher Punktdichte (Vergleich des Vorbeigehens an der weißen Wand und der Plakatwand). Offensichtlich gleichen die Zellen Unterschiede in den Eingangssignalen über einen internen Verstärker aus. Diese Signalverstärkung bezogen die Neurobiologen nun in ihre Berechnungen ein. Mit Erfolg, denn das neue Modell beschreibt sehr zuverlässig das Verhalten der Nervenzellen des Netzwerks, egal wie komplex die Welt um die Fliege - oder um uns - herum ist.