Das Hirnwachstum nach der Geburt macht den Unterschied beim Denkvermögen

Kurze Wachstums- und Reifephase des Gehirns beim Homo erectus ermöglichte nur begrenzte kognitive Fähigkeiten

15. September 2004

Menschen unterscheiden sich von anderen Primaten durch ihre lang ausgedehnte Wachstums- und Entwicklungsperiode. Hinzu kommt, dass beim Menschen das Gehirn nach der Geburt noch mehr als zehn Jahre lang weiter wächst. Erstmalig mittels Computertomographie (CT) hat jetzt eine Forschergruppe um Prof. Jean-Jacques Hublin vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Hélène Coqueugniot von der Université Bordeaux 1 den Schädel des 1,8 Mio. Jahre alten Mojokerto-Kindes untersucht, eines H. erectus-Fundes aus Java/Indonesien. Sie stellten fest, dass das Kind zum Zeitpunkt des Todes etwa ein Jahr alt war und sein Gehirnvolumen 72-84 Prozent des Gehirnvolumens eines erwachsenen H. erectus betrug. Vergleiche mit heute lebenden Menschen und Schimpansen ergaben, dass das Gehirnwachstum des H. erectus-Kindes außerhalb des Mutterleibes ähnlich schnell abgeschlossen war wie bei Schimpansen, aber wesentlich früher als beim modernen Menschen. Daraus schließen die Forscher, dass H. erectus über geringere kognitive Fähigkeiten verfügt hat als der heutige Mensch. Die neuen Forschungsergebnisse sind in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht (Nature, 16. September 2004).

Aus der Analyse der Mikrostruktur von Zähnen weiß man heute, dass das Wachstum der Zähne bei H. erectus schneller abgeschlossen gewesen sein muss als beim modernen Menschen, sich das für den modernen Menschen typische Wachstumsmuster also erst relativ spät herausgebildet hat. Eine weitere Besonderheit des Menschen ist die so genannte sekundäre Altrizialität, also das Wachstum des Gehirns weit über die Geburt hinaus. Während bei den meisten Primaten das Gehirn bei der Geburt schon weitgehend entwickelt ist, beträgt das Gehirnvolumen eines neugeborenen Kindes nur etwa 25 Prozent des Gehirnvolumens eines erwachsenen Menschen (beim Schimpansen: 40 Prozent). Im ersten Lebensjahr wächst das Gehirn in derselben Geschwindigkeit weiter wie vor der Geburt, sodass ein einjähriges Kind bereits 50 Prozent (beim Schimpansen 80 Prozent) des Gehirnvolumens eines Erwachsenen erreicht hat.

Speziell in den ersten zehn Lebensjahren, die das Gehirn zum Wachsen und Reifen benötigt, sind Menschenkinder stark auf die Unterstützung ihrer Eltern und ihres sozialen Umfelds angewiesen. Diese lange Zeitspanne, in der sich das Gehirn noch weiter entwickelt und sich immer neue neuronale Vernetzungen bilden, fördert die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Die intensive Interaktion von somatischen und senso-motorischen Hirnregionen über diesen langen Zeitraum könnte sogar eine Voraussetzung dafür gewesen sein, dass die Sprache entstehen konnte. Bisher war es unter Paläoanthropologen jedoch umstritten, wann sich in der Evolution des Menschen die sekundäre Altrizialität entwickelt hat.

Der gut erhaltene Schädel des H. erectus-Kindes bot nun die Gelegenheit das herauszufinden. Das Mojokerto-Kind wurde 1936 in der gleichnamigen Region auf Java/Indonesien gefunden und auf ein Alter von 1,8 Mio. Jahren datiert. Das Schädeldach ist fast komplett erhalten. Da kein Zahnmaterial erhalten geblieben ist, konnte das Lebensalter des Kindes zum Todeszeitpunkt nur am Entwicklungsstand spezieller Schädelstrukturen festgestellt werden. Erste Schätzungen bewegten sich zwischen 18 Monaten und 8 Jahren. Diese Spanne wurde später auf ein Alter von vier bis sechs Jahren eingeschränkt, indem man Vergleiche mit dem Ablauf der Individualentwicklung beim modernen Menschen anstellte.

Mittels computertomographischer Aufnahmen vom Schädel des Mojokerto-Kindes konnte das deutsch-französische Forscherteam nun sein Alter anhand des Entwicklungsstandes innerer Schädelstrukturen neu bestimmen. Dazu analysierten die Wissenschaftler, wie weit die Verknöchererung der Pars tympanica (einer Knochenplatte im vorderen Teil des Gehörganges), der Stirnfontanelle in der Bregma-Region und der Fossa subarcuata (Öffnung im Bereich des Felsenbeins, die sich im Laufe der Kindheit schließt) fortgeschritten war. Anschließend wurden die Daten sowohl mit denen von 159 Schädeln moderner Menschen zwischen 0 und 8 Jahren als auch von 201 jungen Schimpansen und Bonobos verglichen.

Die Forscher stellten fest, dass beim Mojokerto-Kind - im Unterschied zu modernen Menschen und Schimpansen - die Pars tympanica bereits vollständig verknöchert war, während die Entwicklung der Bregma-Region und der Fossa subarcuata noch nicht abgeschlossen waren. Die Entwicklung der Pars tympanica ist jedoch kein gutes Kriterium zur Altersbestimmung, da in allen Altersstufen unterschiedliche Verknöcherungsgrade auftreten können. Bei der Untersuchung der Bregma-Region wurde weiterhin festgestellt, dass sich beim Mojokerto-Kind bereits Spongiosa, eine poröse Substanz, die sich zwischen den beiden Knochenplatten des Schädels befindet, gebildet hatte, die Scheitelbeine jedoch noch nicht vollständig entwickelt waren. Zwischen den beiden Scheitelbeinen befindet sich zudem eine 3,5 Millimeter große Lücke, die einerseits zwar als ein unvollständiger Verschluss der Stirnfontanelle, andererseits jedoch auch als postmortale Beschädigung gedeutet werden kann. Ein weiteres Kriterium zur Altersbestimmung des Mojokerto-Kindes war der Verschlussgrad der Fossa subarcuata. Vergleiche des Entwicklungsstandes der Pars tympanica, der Bregma-Region und der Fossa subarcuata von jungen modernen Menschen und jungen Schimpansen ergaben, dass das Mojokerto-Kind zum Zeitpunkt seines Todes etwa ein Jahr alt gewesen sein muss.

Schließlich war noch wichtig, das Schädelvolumen des H. erectus-Kindes zu bestimmen. Eine direkte Messung war nicht möglich, da der Schädel mit Sedimenten gefüllt ist. Doch mithilfe der computertomographischen Aufnahmen konnten die Forscher das Schädelvolumen auf 663 Kubikzentimeter schätzen. Anschließend untersuchten sie zwei ausgewachsene H. erectus-Schädel, von denen einer aus Afrika und der andere aus Asien stammt. Das Schädelvolumen des Mojokerto-Kindes entspricht 72 Prozent des afrikanischen H. erectus und 84 Prozent des asiatischen H. erectus. Auch diese Untersuchungen bestätigen das geschätzte Alter des H. erectus-Kindes von etwa einem Jahr.

Obwohl die Ergebnisse auf der Untersuchung nur eines einzigen H. erectus-Kindes fußen, kann man davon ausgehen, dass sich die sekundäre Altrizialität erst relativ spät in der Evolution des Menschen entwickelt hat, möglicherweise beim gemeinsamen Vorfahren von H. sapiens und H. neanderthalensis, die beide über ein relativ großes Gehirn verfügten. Die Daten weisen außerdem darauf hin, dass die Zeit, in der das Gehirn des Kindes außerhalb des Mutterleibes wachsen und reifen konnte, beim H. erectus sehr kurz war. Dies macht es unwahrscheinlich, dass der frühe Homo bereits über kognitive Fähigkeiten verfügte, die denen des modernen Menschen vergleichbar waren und deutet ferner darauf hin, dass sich komplexe Sprache erst relativ spät in der menschlichen Evolution entwickelt hat.

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