"Der virtuelle Patient"

Preisgekrönter Beitrag zum Essay-Wettbewerb "Gesundheit 2050"

1. Dezember 2011

"Geh doch zum Arzt!" sagt meine Großmutter besorgt zu mir, nachdem ich ihr die auffälligen Hautflecken auf meinem rechten Arm gezeigt habe. "Geh doch zum Arzt!"wiederhole ich ihre Worte, schüttle leicht meinen Kopf und kann mir dabei ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich war noch nie beim Arzt.

Text: Alexander Kühn

Nicht, dass ich von der Natur mit einer übermäßigen körperlichen Konstitution gesegnet wurde, ganz im Gegenteil. Mit Anfang 20 erkrankte ich an Hodenkrebs, später gesellte sich Diabetes dazu. Und jetzt evtl. Hautkrebs. Aber deswegen zum Arzt? Zumal es sich bei den Flecken auf dem Arm nur um eine virtuelle Projektion auf meinem Smart-Phone handelt. Wie damals als bei mir Hodenkrebs und Diabetes diagnostiziert wurden. Auf meiner Haut ist nichts zu sehen, noch nicht. "Aber Oma, das ist doch nur eine Warnung, dass ich sehr wahrscheinlich bald an Hautkrebs erkranken könnte. Ich muss doch jetzt nur hier klicken und an meinem virtuellen Ich werden verfügbare Medikamente getestet. Dann bekomme ich den optimalen Medikamenten-Mix gleich zugeschickt und der Krebs wird nie ausbrechen," sage ich zu ihr und zeige dabei auf die App auf meinem Smart-Phone.

Einen toten virtuellen Patienten kann man wiederbeleben

"Ach, du mit deinem ganzen Technik-Kram. Ich halte es noch immer für einen Fehler, dass deine Eltern damals zugestimmt haben, ein virtuelles Alter Ego von dir anlegen zu lassen. Wie soll das denn helfen? Ein Mensch ist doch viel zu komplex, als dass man ihn mit Hilfe eines Computers abbilden könnte!" erwidert sie ein wenig erbost. Seit 2012 europaweit das 'IT Future of Medicine'-Programm gestartet war, gab es viele Kritiker und Zweifler. Ebenso wie meine Großmutter glaubten sie nicht, dass es möglich sein könnte, basierend auf den persönlichen Genomdaten und einer effizienten Analytik Krankheiten zu heilen, geschweige denn Krankheiten prognostizieren und patientenspezifisch präventiv behandeln zu können. Und das individuell für jeden einzelnen Menschen.

Aber ich bin froh, dass meine Eltern nicht zu dieser Gruppe gehörten. Ich finde es eher fahrlässig, dass man zu Zeiten meiner Großmutter Patienten mit Medikamenten behandelt hat, von denen man gar nicht wusste, ob diese überhaupt bei allen Menschen eine Wirkung haben. Jeder Mensch und daher auch jede Erkrankung ist ja verschieden. Schließlich hat man ja auch schon damals Crash-Tests nicht an echten Autos, sondern an Automodellen auf Computern simuliert. Glücklicherweise dachten meine Eltern nicht so wie meine Großmutter. So wurde mein Genom noch vor meiner Geburt bestimmt und ein mir selbst entsprechendes Computermodell angelegt. Wurde ich krank, konnten alle in Frage kommenden Medikamente zunächst an diesem Modell, welches nahezu alle molekularen Interaktionen der menschlichen Gene, RNAs und Proteine beinhaltet und mit meinen Genomdaten personalisiert ist, auf ihre Wirkung hin überprüft werden. Die wirkliche Behandlung mit der optimalen Medikamentenkombination und der richtigen Dosierung erfolgte schließlich erst nach ausgiebigen Tests an diesem Modell, meinem virtuellen persönlichen Crash-Test-Dummy quasi. Denn diesen konnte man ja schließlich resetten, nachdem er 'gestorben' war, mich nicht.

Personalisierte Medizin erhöht die Lebensqualität

"Aber du hast mir doch selbst erzählt, dass Opa an Krebs gestorben ist. Und dass er vor seinem Tod monatelang im Krankenhaus lag und an schweren Nebenwirkungen litt, weil er auf keines der Medikamente ansprach. So etwas passiert heutzutage nur noch in den seltensten Fällen! Da musst du mir doch zustimmen, dass die personalisierte Medizin mit Hilfe des virtuellen Patienten erheblich fortschrittlicher ist als die klassische Medizin, Oma!" Sie antwortet mit einem widerwilligen Grunzen, das ich als Zustimmung werte.

Ebenso wie sie ließen die schnellen Erfolge auf dem Gebiet der Onkologie auch die anderen Kritiker verstummen. Lag die durchschnittliche Ansprechrate von Krebstherapien früher bei ca. 10% und selbst die der fortschrittlichsten sogenannten zielgerichteten Therapien nur bei ca. 30%, erzielte man mit Hilfe des virtuellen Patienten Ansprechraten von über 90%. Nebenwirkungen gab es so gut wie keine mehr. Krebs war auf einmal keine tödliche Bedrohung mehr. Als sich dann noch die ersten Erfolge bei anderen Volkskrankheiten wie Diabetes und Herzerkrankungen einstellten, waren auch die letzten Zweifler überzeugt vom virtuellen Patienten. Inzwischen gibt es weitaus weniger lebensbedrohliche Krankheiten und viele davon können mittlerweile vorhergesagt und präventiv behandelt werden.

Das Gesundheitssystem stand vor dem Kollaps

"Und außerdem hast du mir doch immer erzählt, vor welchen gravierenden Problemen das Gesundheitssystem zu deiner Zeit stand. Explodierende Krankenkassenbeiträge, eine alternde Gesellschaft, die aufwendig medizinisch versorgt werden musste, eine sinkende Zahl von neuen wirksamen Medikamenten, die zudem immer teurer in ihrer Entwicklung wurden.

Wenn du in deiner Jugend genauso geringe Beiträge zur Krankenversicherung gezahlt hättest wie ich jetzt, hätte ich als Kind wohl größere Geschenke zu meinen Geburtstagen von dir bekommen," sage ich schelmisch und entlocke meiner Oma ein kurzes Lächeln.

Und tatsächlich hatte die Einführung des virtuellen Patienten neben einer höheren Zahl von Überlebenden auch noch den Effekt, dass die Krankenversicherungsbeiträge spürbar sanken. Aufwendige stationäre Betreuung durch Nebenwirkungen falscher Medikation konnten vermieden werden. Die durchschnittlichen Arbeitsfehltage aufgrund von Krankheiten gingen erheblich zurück. Zwar hatten wir noch immer eine alternde Gesellschaft, aber Alt-Werden war nicht mehr gleichbedeutend mit Krank-Sein. Arztbesuche wurden in vielen Fällen obsolet, da Diagnosen und Behandlungen mit Hilfe des virtuellen Patienten per Smart-Phone erfolgten. Dies hatte auch zur Folge, dass die Zahl der Betrugsfälle von Ärzten durch Falschabrechnungen bzw. Über-Behandlungen zurückging.

Damit erwiesen sich Prophezeiungen der Gegner des virtuellen Patienten-Systems als falsch. Sie hielten die Bewegung der personalisierten Medizin für eine Illusion, ausgedacht von den Pharmariesen und Ärzteverbänden, um die ohnehin schon leeren Kassen der Krankenversicherungen noch weiter zu belasten und den Arbeitnehmern noch höhere Beiträge zur Krankenversicherung abzuverlangen. Auch die Befürchtungen, dass keine neuen innovativen Medikamente mehr von den Pharmafirmen entwickelt werden, erwiesen sich als falsch. Damals dachte man noch, für die Pharmaindustrie wäre es nicht mehr rentabel gewesen, Medikamente für eine nur kleine Patientengruppe zu entwickeln. Mit Hilfe des virtuellen Patienten erfuhr die Pharmazeutik jedoch einen Umschwung. Die Entwicklung neuer Medikamente wurde deutlich beschleunigt und kostengünstiger, da langwierige und teure klinische Studien an Patienten durch Computersimulationen ihrer Wirkungsweise ersetzt werden konnten.

Personalisierte Medizin als Motor der Wirtschaft

"Und schau dir an, zu welchem wirtschaftlichen Aufschwung die personalisierte Medizin geführt hat," fahre ich fort. Worauf meine Oma nur ein kapitulierendes "Jaja" erwidern kann. Denn schon kurz nach Beginn des 'IT Future of Medicine'-Programms erlebte die Wirtschaft, allen voran der IT-Markt, einen ungeheuren Aufschwung.

Wie damals zur Jahrtausendwende die Erfindung des Internets, erzeugte nun die personalisierte Medizin eine erhöhte Nachfrage nach leistungsfähigeren Computern, biometrischen Sensoren, neuen Speichermedien und dergleichen. Europaweit schossen kleine Start-Ups aus dem Boden. Sie präsentierten der Medizin innovative Produkte zur Messung, Detektion und Quantifizierung von Genomen, Transkriptomen und Proteomen und zum interaktiven Austausch von klinischen Daten. Programmierer schrieben weltweit an Apps, die mit Hilfe des virtuellen Patienten den kranken Menschen die Möglichkeit zur Selbstdiagnose und -behandlung von zuhause aus boten.

Meine Daten gehören mir

Aber noch hat meine Oma nicht ganz aufgegeben: "Naja, aber was ist, wenn deine Daten in falsche Hände geraten? Vielleicht bekommst du dann keinen Job oder wirst nicht mehr versichert. Und überhaupt, du hattest doch auch Geschichte in der Schule, das hatten wir doch schon mal, dass Menschen ausgegrenzt und verfolgt wurden, weil sie angeblich minderwertiges Erbgut hatten. Spielst du damit nicht irgendwelchen Ewiggestrigen in die Hände, die von der perfekten menschlichen Rasse träumen?" fragt mich meine Oma, nun siegesgewiss.

Viele Menschen hatten ursprünglich Bedenken, dass mit den genomischen Daten der Patienten Missbrauch getrieben werden würde. Filmemacher und Schriftsteller entwarfen düstere Zukunftsvisionen einer Zweiklassengesellschaft, in der nur die erfolgreich sein konnten, deren Eltern darauf geachtet hatten, nur die Kinder mit den besten Genen zu bekommen. Gataca, ein Film, in dem bereits im letzten Jahrhundert vor Gefahren der Genanalyse und -technik gewarnt wurde, erlebte eine Renaissance und wurde zum Klassiker. Einige trauen der neuen Technik immer noch nicht. Kein Gesetz zwingt sie, einen virtuellen Doppelgänger anzulegen oder sich präventiv behandeln zu lassen. Meinen Hodenkrebs damals habe ich auch nicht präventiv behandeln lassen, da ich noch ein wenig skeptisch war. Aber der Computer sollte damals leider recht behalten. Glücklicherweise auch später bei der Wahl der richtigen Medikamente für die Behandlung des Hodenkrebs. Und wie es sich gezeigt hat, sind die Prognosen des virtuellen Patienten meist richtig sind. Daher kenne ich mittlerweile unter meinen Freunden niemanden, der sich nicht präventiv behandeln lässt, wenn sein virtueller Patient eine Erkrankung vorhersagt.

Die meisten aber sehen ihre Daten so gut gesichert wie den Zugang zu ihrem Bankkonto. Sogar doppelt so sicher. Denn Ethikkommissionen haben gemeinsam mit der Politik sichergestellt, dass die gespeicherten Daten lediglich den Personen und deren behandelnden Ärzten zugänglich sind: wenn nicht Arzt und Patient gleichzeitig ihren Code eingeben sind die Daten nicht lesbar. Die elektronische Gesundheitskarte, die zu Zeiten meiner Oma eingeführt wurde, diente als Vorbild. "Und außerdem, wenn jemand wissen will, ob ich Mumps hatte, als ich klein war, kann er sich auch meine Kinderfotos auf Facebook ansehen." Meine Großmutter lacht: "Ja, du hast ausgesehen wie ein Hamster!"

Grenzen des virtuellen Patienten

"So Oma, jetzt muss ich aber los. Meine Freundin wartet mit dem Essen auf mich", sage ich und stehe vom Tisch auf, um mich zu verabschieden. Dabei stoße ich mit meinem Kopf an den Leuchter meiner Oma. Tut verdammt weh. "Kann der Computer das etwa nicht verhindern?" fragt sie schadenfroh. Nein, kann er leider nicht, wird er wohl auch nie können. Man wird wohl immer ein wenig selbstverantwortlich handeln müssen. Schade eigentlich.

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