Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Kernphysik
Besseres Verständnis biologischer Strahlenwirkung
Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg
Das Leben auf der Erde ist einem ständigen Bombardement durch energiereiche, ionisierende Strahlung aller Art ausgesetzt. Diese stammt von natürlicher Radioaktivität im Boden und in der Luft ebenso wie von kosmischer Strahlung. Aber auch in medizinischen Anwendungen, wie in der Strahlentherapie von Krebstumoren, werden Röntgen- und Gammastrahlen, aber auch Teilchenstrahlen aus Ionen oder Elektronen verwendet. Der relevante Mechanismus in biologischen Zellen ist die irreparable Schädigung des Erbgutes durch diese hochenergetische Strahlung. Dadurch lässt sich etwa die weitere Zellteilung unterbinden und die Zelle stirbt ab. Die Wahrscheinlichkeit für irreparable Schäden ist dabei höher, wenn mehrere Defekte in einem kleinen Volumen innerhalb der DNA verursacht werden. Besonders wirksam sind dabei die vielen Elektronen, die die hochenergetische Strahlung auf dem Weg durch das Gewebe aus Molekülen herausschlägt und die in einem lawinenartigen Effekt weitere Elektronen freisetzen.
Während die physikalischen Stoßprozesse an Einzelmolekülen gut untersucht sind, wollen wir verstehen, wie die natürliche Umgebung im Gewebe, das heißt Nachbarmoleküle, diese Kollisionen beeinflusst. Dabei haben wir bisher unbekannte, besonders wirkungsvolle Reaktionen gefunden. Bei diesen werden in einem Einzelstoß mehrere benachbarte Biomoleküle zerstört und zusätzlich weitere reaktive Elektronen erzeugt.
Molekülaggregate im Vakuum
Im Labor analysieren wir Elektronenstöße an Aggregaten aus wenigen Einzelmolekülen, die wir in einem Gasstrahl in einer Vakuumkammer präparieren. Da die Stöße im luftleeren Raum stattfinden, können wir für jeden Einzelstoß die geladenen Reaktionsprodukte nachweisen und analysieren. Mittels eines Vielteilchenspektrometers, dem sogenannten Reaktionsmikroskop, lassen sich von allen resultierenden Ionen und Elektronen die Massen, die Flugrichtungen und Geschwindigkeiten bestimmen.
Wir konnten dadurch erstmals herausfinden, dass die Umgebung des Moleküls großen Einfluss auf den Ausgang eines Stoßes hat. Ein wichtiges Beispiel ist die Hydrathülle von Biomolekülen. So ist beispielsweise jedes Basenpaar der DNA im Zellkern von einer Hülle von etwa 22 Wassermolekülen umgeben, die durch Wasserstoffbrückenbindungen gebunden sind. Als einfaches Model für das DNA-Molekül mit Hydrathülle untersuchten wir ein schwach gebundenes Paar aus einem Wassermolekül und dem organischen Molekül Tetrahydrofuran (THF). THF ähnelt dem Zuckermolekül Desoxyribose, einem der Bausteine der DNA. Ionisierte ein Stoß das Sauerstoffatom im Wassermolekül, so konnten wir die Übertragung von Anregungsenergie an das benachbarte Zuckermolekül und dessen Ionisation beobachten [1]. Durch diesen sogenannten intermolekularen Coulomb-Zerfall (siehe Abb. 1) entstehen zwei positiv geladene Moleküle, die einander abstoßen, und es kommt es zur sogenannten Coulomb-Explosion des Komplexes. In der DNA wäre ein möglicherweise irreparabler Schaden entstanden.
Wasser und die damit verbundene Ionisation des Sauerstoffs ist aber nicht unbedingt notwendig. Wie wir unter anderem bei Paaren von Benzolmolekülen gesehen haben, tritt derselbe Mechanismus auch direkt zwischen organischen Molekülen auf, bei denen im ersten Schritt ein Kohlenstoffatom ionisiert wird [2]. Unsere jüngsten Messungen zeigen schließlich, dass auch Mehrfachbindungen, wie sie zwischen den Einzelsträngen der DNA vorliegen, aufgebrochen werden können. Dabei haben wir, als Modell für die konjugierten Basenpaare in der DNA, Paare aus Ameisensäure verwendet [3].
Hochwirksame Reaktion
Diese Ergebnisse zeigen, dass es für das Verständnis der Strahlenwirkung nicht ausreicht, Stoßprozesse mit Einzelmolekülen zu betrachten, und dass die molekulare Umgebung im Gewebe einbezogen werden muss. Der intermolekulare Coulomb-Zerfall, bei dem neben dem unmittelbar getroffenen Molekül auch seine Umgebung ionisiert wird, ist offenbar ein wichtiger Mechanismus für die Strahlenwirkung in biologischen Zellen. Diese Reaktion ist zwar seltener im Vergleich zur direkten einfachen Ionisation von Biomolekülen. Doch wegen der sehr wirksamen Mehrfachschäden, die in einem kleinen Bereich auftreten, sollte sie in Modell- und Simulationsrechnungen und bei der Berechnung der Auswirkungen von ionisierender Strahlung auf Gewebe berücksichtigt werden. Eine wichtige Anwendung wäre die Entwicklung von Strahlensensibilisatoren, die den neu gefundenen Mechanismus nutzen, um beispielsweise die Wirkung der medizinischen Strahlentherapie zu verbessern.