Röntgenanalyse ohne Zweifel

Daten von Weltraumteleskopen lassen sich zukünftig mit hohem Vertrauen in die zugrunde liegenden Atommodelle bearbeiten

Sehr heißes Gas, wie es in der Korona der Sonne oder der nahen Umgebung Schwarzer Löcher existiert, sendet intensive Röntgenstrahlung aus. Sie verrät, welche physikalischen Bedingungen, wie Temperatur und Dichte, dort herrschen. Doch seit Jahrzehnten kämpfen die Forschenden mit einem Problem: Die im Labor gemessenen Intensitätsverhältnisse wichtiger Strahlungslinien von Eisen stimmen nicht mit den berechneten überein, und damit herrscht auch Unklarheit über die aus den Röntgenspektren abgeleiteten Größen des Gases. Ein internationales Team unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg hat nun mit einem außerordentlich präzisen Experiment das Problem gelöst: Theorie und Experiment stimmen endlich überein. Damit können Röntgendaten von Weltraumteleskopen zukünftig mit hohem Vertrauen in die zugrundeliegenden Atommodelle analysiert werden.

Nahezu alles, was wir über ferne Sterne, Gasnebel und Galaxien wissen, beruht auf der Analyse des Lichts, das wir von ihnen empfangen. Genauer gesagt, der elektromagnetischen Wellen, denn mittlerweile steht Astronomen deren gesamtes Spektrum zur Verfügung. In welchem Spektralbereich ein Körper oder ein Gas besonders hell leuchtet, hängt vor allem von seiner Temperatur ab: Je heißer, desto energiereicher die Strahlung. Im Weltraum befindet sich mehr als 99 Prozent der gesamten sichtbaren Materie im Plasmazustand; es ist so heiß, dass die Atome ein oder mehrere Elektronen verloren haben und als positiv geladene Ionen vorliegen. Extrem heiße Plasmen mit Temperaturen von mehr als eine Million Grad gibt es zum Beispiel in der während einer totalen Sonnenfinsternis sichtbaren Korona der Sonne. Darüber hinaus findet man sie in der Umgebung von Schwarzen Löchern oder als intergalaktisches Gas zwischen den Galaxien.

Die von solchen Plasmen ausgesandte Röntgenstrahlung weist die Fingerabdrücke der in ihnen befindlichen chemischen Elemente auf. Sehr prominent sind Strahlungslinien (Emissionslinien) von mehrfach ionisiertem Eisen, insbesondere Fe XVII, das von seinen ursprünglichen 26 Elektronen 16 verloren hat. Der Grund: Eisen ist unter den schweren Elementen häufig und Fe XVII über einen breiten Temperaturbereich vertreten.

Bei der Analyse eines Röntgenspektrums vergleicht man neben den Energien der Emissionslinien unter anderem die Intensitätsverhältnisse charakteristischer Linien. Um daraus auf die Eigenschaften des kosmischen Plasmas schließen zu können, muss man diese Intensitätsverhältnisse gut kennen. Das ist möglich, indem man sie theoretisch berechnet und im Labor experimentell überprüft. Und genau das war bislang das Problem: Quantenmechanische Rechnungen und Laborergebnisse des Intensitätsverhältnisses von zwei starken Linien namens 3C und 3D wichen um etwa 20 Prozent voneinander ab. Dies stellte unser Verständnis atomarer Struktur und das Vertrauen in die genutzten Modelle in Frage.

Das war nicht nur ein Problem für die Astronomen, sondern auch für die Physiker, denn wo lag der Fehler, in der Theorie oder dem Experiment? Vor zwei Jahren hatte das Team um Doktorand Steffen Kühn vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) das bis dahin genauestes Experiment durchgeführt, und auch damals blieb eine unerklärbare Diskrepanz bestehen. Das MPIK-Theorieteam um Natalia Oreshkina und Zoltan Harman sowie Marianna Safronova und Charles Cheung in den USA und Julian Berengut in Australien hatten Supercomputer heiß laufen lassen, um die Emissionslinien 3C und 3D von Fe XVII mit höchster Präzision erneut zu berechnen: Die Diskrepanz sowie die Fragestellung blieben: Wer hatte Recht?

"Wir waren überzeugt alle damals bekannten systematische Effekte bei der Messung im Griff zu haben", erinnert sich Kühn. Doch in einem letzten Anlauf wollte er und das Forscherteam, geleitet von José Crespo, der Sache auf den Grund gehen: Anstelle des Intensitätsverhältnisses der beiden Linien versuchte man die absolute Stärke der einzelnen Übergänge, auch Oszillatorstärke genannt, zu vermessen. Doch um diese individuellen Linienstärken zu vermessen und den Übeltäter der beiden Linien in der theoretischen Betrachtung zu identifizieren, musste die Qualität der Messdaten erheblich verbessert werden.

Für diese knifflige Messung hat Kühn eine Electron Beam Ion Trap Apparatur (PolarX-EBIT) verwendet, die im Rahmen eines Projekts von Postdoc Sonja Bernitt am MPIK gebaut worden war. In ihr werden Eisen-Ionen durch einen Elektronenstrahl produziert und in einem Magnetfeld gefangen. Dabei entfernt der Elektronenstrahl die äußeren Elektronen der Eisen-Ionen, bis das gewünschte Fe XVII vorliegt. Dann werden die gefangenen Eisen-Ionen mit Röntgenlicht geeigneter Energie bestrahlt, sodass sie leuchten. Dafür muss die eingestrahlte Energie der Röntgenphotonen variiert werden, bis die gesuchten Linien exakt getroffen werden. Da handelsübliche Geräte die benötigte Röntgenstrahlung nicht produzieren können, musste die PolarX-EBIT zum DESY nach Hamburg transportiert werden. Dort erzeugt das Synchrotron PETRA III einen Röntgenstrahl, dessen Energie sich über einen bestimmten Energiebereich durchstimmen lässt. Auf diese Weise regt man die Eisen-Ionen zur Emission von Röntgenstrahlung an, die dann spektral analysiert wird.

Mit trickreichen Verbesserungen an der Apparatur und am Messschema gelang es Kühn mit seinen Kollegen Moto Togawa, René Steinbrügge und Chintan Shah, in langen Tagen und kurzen Nächten an der PETRAIII-Strahlröhre die Auflösung der Spektren im Vergleich zu ihrer vorherigen Messung noch einmal zu verdoppeln und den störenden Untergrund, wie er bei jeder Messung auftritt, um einen Faktor tausend zu unterdrücken. Die enorm verbesserte Datenqualität brachte den Durchbruch: Erstmals konnten die zu untersuchenden Emissionslinien vollständig von benachbarten Linien getrennt werden. Außerdem ließen sich die Linien 3C und 3D nun bis zum äußersten Rand vermessen. "In den bisherigen Messungen waren die Flügel dieser Linien im Untergrund versteckt, was zu einer fehlerhaften Interpretation der Intensitäten geführt hatte", erklärt Kühn. Damit ist auch Maurice Leutenegger vom NASA Goddard Space Flight Center hochzufrieden, der als Experte für Röntgenastrophysik am Experiment beteiligt war: Das Endergebnis stimmt nun hervorragend mit den theoretischen Vorhersagen überein. Das freut auch die Theoretiker.

"Damit ist das Vertrauen in die quantenmechanischen Rechnungen gestärkt, mit denen astrophysikalische Spektren analysiert werden. Dies gilt besonders für Linien, für die es keine experimentellen Vergleichswerte gibt", verdeutlicht Kühn die Bedeutung des neuen Resultats. Und die Spektren der Weltraumteleskope können nun mit höherer Genauigkeit ausgewertet werden. Das betrifft auch zwei große Röntgenobservatorien, die demnächst ins All gelangen sollen: Das unter japanischer Leitung gebaute X-Ray Imaging Spectroscopy Mission (XRISM, Start im Mai 2023) und das Athena X-Ray Observatory der Europäischen Weltraumorganisation ESA (Start in den frühen 2030er Jahren).

TB

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