Stress mit Geschwistern
Bei Menschenaffenkindern löst die Geburt eines Geschwisters eine anhaltende Stressreaktion aus
Die Geburt eines Kindes ist ein freudiges Ereignis. Auch Geschwister lassen sich in der Regel von der allgemeinen Begeisterung anstecken. Für Letztere kann das Stimmungshoch jedoch schnell einbrechen, denn die Ankunft des Geschwisters ist oft mit einem spürbaren Verlust der elterlichen Aufmerksamkeit verbunden. Entwicklungspsychologen kennen ein breites Spektrum an Verhaltensänderungen, mit denen ältere Geschwister auf das „freudige Ereignis“ reagieren. Jetzt haben Wissenschaftler erstmals herausgefunden, dass die Geburt eines Geschwisters auch bei Menschenaffen eine Stressreaktion auslöst.
Bonobos (Pan paniscus) sind Menschenaffen, die nur im kongolesischen Regenwald vorkommen. Wie andere Menschenaffen, machen sie eine lange Jugendentwicklung durch und bis zum Erwachsenwerden vergehen viele Jahre. Bis zum Alter von 4 bis 6 Jahren sind sie von der Muttermilch abhängig und erst mit 12 bis 15 Jahren ist der Nachwuchs ausgewachsen. Und selbst dann sind sie oft noch auf mütterliche Zuwendung angewiesen: Söhne bleiben in ihrer Geburtsgruppe und bei ihnen besteht zeitlebens eine enge Mutter-Kind Bindung. Bei den meisten Tierarten werden die Nachkommen entwöhnt, lange bevor die Mutter ein weiteres Kind zur Welt bringt. Bei Bonobos und anderen Menschenaffen verläuft die Entwicklung jedoch sehr viel langsamer und das Leben im Geschwisterverband ist die Norm.
Wie die älteren Geschwister mit Neugeborenen zurechtkommen und welchen Einfluss die Konkurrenz um mütterliche Fürsorge hat, sind spannende Fragen, die bislang in der Primatenforschung wenig Beachtung fanden. «Erstaunlicherweise hat noch keine Studie untersucht, ob die Geburt eines Geschwisters beim älteren Kind eine Reaktion auslöst, die sich auch physiologisch nachweisen lässt», sagt Verena Behringer, Wissenschaftlerin am Deutschen Primatenzentrums und Erstautorin der Studie.
Übergang ins Geschwisterleben
Das Forscherteam zu dem Experten des Deutschen Primatenzentrums, der Veterinärmedizinischen Universität Wien, der Max-Planck-Institute in Leipzig und Konstanz sowie der George Washington University gehören, untersuchte erstmals Physiologie und Verhalten wildlebender Primaten, um den kritischen Übergang in das Geschwisterleben nachzuverfolgen. Dafür wurden Daten aus der Forschungsstation LuiKotale im kongolesischen Regenwald verwendet. Hier werden unter Leitung von Barbara Fruth vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie seit 20 Jahren wissenschaftliche Untersuchungen an wilden Bonobos durchgeführt. Mehr als 650 Stunden lang beobachteten die Forscher das Verhalten von 17 Jungtieren zwischen zwei und acht Jahren, die erstmals Geschwister wurden. Für die Hormonmessungen wurden Urinproben der betroffenen Menschenaffenkinder verwendet.
Die Studie war so konzipiert, dass die Forscher zwischen der Entwöhnung von der mütterlichen Milch und der Geburt des Geschwisters unterscheiden konnten. „Wenn Jungtiere heranwachsen, durchlaufen sie unterschiedliche Stadien die sowohl sozialen Entwöhnung als auch Ernährungsumstellung beinhalten und beide Faktoren können eine Stressreaktion auslösen“, sagt Barbara Fruth, Ko-Autorin der Studie und Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. „Sichtbare Veränderungen sind beispielsweise Dauer und Häufigkeit, mit der Kinder von der Mutter gesäugt werden sowie die Abnahme der Bereitschaft der Mütter, ältere Kinder zu tragen. Um den Entwöhnungsprozess von der Geburt des Geschwisters unterscheiden zu können, haben wir sowohl Hormonmessungen der Urinproben als auch Verhaltensbeobachtungen vor und nach der Geburt des Geschwisters in die Analysen einbezogen.“
Anstieg eines Stresshormons
Was das Forscherteam um Verena Behringer herausfand, war nicht ganz unerwartet: Die Ankunft des Geschwisters löste einen Anstieg des Stresshormons Cortisol aus. Was das Forscherteam jedoch überraschte, war das Ausmaß der Stressreaktion: Cortisol stieg um das Fünffache über den Normalwert an und blieb sieben Monate lang erhöht. Gleichzeitig verzeichneten die Forscher einen Rückgang von Neopterin, einem Marker, der eine Aktivierung des Immunsystems signalisiert. „Die Geburt eines Geschwisterkindes löste bei allen Bonobos einen massiven Anstieg der Cortisolwerte aus, unabhängig davon, ob es das ältere Geschwister zwei oder acht Jahre alt war“, sagt Behringer. „Dieser Verlauf lässt vermuten, dass die Stressreaktion nicht durch energetische Stressoren wie das plötzliche Ende der Stillzeit ausgelöst wird.“
Die Verhaltensbeobachtungen der Bonobokinder im Wald von LuiKotal sowie die Messung von Hormonen, die energetischen Stress anzeigen, untermauern diese Annahme: So protokolierten die Forscher, wie oft Mütter das ältere Geschwister säugten, wie häufig diese engen Körperkontakt mit der Mutter hatten und wie oft sie von der Mutter getragen wurden. All diese Entwöhnungsschritte, die durchaus Stress erzeugen können, wurden entweder vor der Geburt des Geschwisters abgeschlossen, zeigten keine plötzliche Veränderung bei der Geburt, oder waren nur bei jungen Individuen auffällig und verschwand mit dem Älterwerden der Kinder. „Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass ein älteres Kind ausflippt, wenn die Mutter ihre Aufmerksamkeit auf ein Neugeborenes richtet», sagt Fruth. «Aber unsere Studie offenbart erstmals, dass die Geburt eines Geschwisters für junge Bonobos eine physiologische Stressreaktion auslöst.“
Die Ergebnisse sind Anlass für weitere Studien und werden das Forscherteam noch einige Zeit beschäftigen. Eine besonders spannende Frage betrifft den Anpassungswert der Stressreaktion: Wenn die Geburt eines Geschwisters bei Menschenaffen ein normales Ereignis ist, dann wäre zu erwarten, dass sich die Arten im Laufe der Evolution daran anpassen und eine entsprechende Stressresistenz entwickeln. „Denkbare wäre, dass das physiologische System von Jungtieren noch nicht in der Lage ist, derartige Resistenzen zu entwickeln oder das die heftige Hormonantwort die Heranwachsenden für kommende Ereignisse fit macht“, sagt Andreas Berghänel, Ko-Autor der Studie von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Und Behringer ergänzt: „Schließlich sind jüngere Geschwister nicht nur Konkurrenten, sondern auch wichtige Sozialpartner, die die Entwicklung der Älteren auch positiv beeinflussen können.“