Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Öffentliche Finanzen als soziales Gewebe: Ideen für eine neue Fiskalsoziologie

Autoren
Wansleben, Leon
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Zusammenfassung
Die öffentlichen Finanzen waren das wichtigste Wahlkampfthema in Deutschland im Jahr 2021. Mit Corona ist auch die günstige Finanzlage der 2010er-Jahre Geschichte. Entsprechend positionierten sich die Parteien mit unterschiedlichen steuerpolitischen Vorschlägen, Ausgabenprioritäten und Haltungen zur „schwarzen Null“. Doch nicht nur der politische Wettbewerb deutet darauf hin, dass mit und über öffentliche Finanzen wichtige Gegenwartsfragen ausgehandelt werden.

Vier Schlüsselthemen unserer Zeit hängen direkt mit Staatsfinanzen zusammen. Erstens provozieren wachsende Ungleichheiten, anhaltende Armut in weiten Bevölkerungsschichten und Steuer- und Ausgabenpolitiken zugunsten Wohlhabender Auseinandersetzungen über Fragen sozialer Gerechtigkeit. Zweitens zeigt die Pandemie, dass die Verschuldungsprozesse hoch entwickelter Industriestaaten problematische Folgen haben. Die expansive Geldpolitik der Zentralbanken ist zu einem wesentlichen Treiber der Finanzialisierung geworden und Länder mit schwächeren Wachstumsraten laufen Gefahr, in eine Schuldenkrise zu geraten. Drittens stehen die Klimaziele in Konflikt mit vorherrschenden Steuer- und Sozialstaatsmodellen, die nach wie vor an klimaschädliches Wachstum gekoppelt bleiben. Und zuletzt stellt sich mit dem Klimawandel, den sichtbaren Folgen von Sparpolitik und der Beherrschung kritischer Infrastrukturen durch große Technologiekonzerne die Frage, welche Güter und Infrastrukturen im 21. Jahrhundert privatwirtschaftlich und welche durch die öffentliche Hand bereitgestellt werden sollten.

Lösungen für diese Fragen können nur über die Aushandlung von Interessenkonflikten und die Bewältigung zwischenstaatlicher Koordinationsprobleme gefunden werden. Die Geschichte lehrt, dass sich Lösungen für Probleme der Staatsfinanzierung, Umverteilung und Sozialpolitik nur dann durchsetzen, wenn sie mit Sozialstrukturen, Gerechtigkeitsvorstellungen und staatlichen Selbstverständnissen in Beziehung stehen. Deshalb bedarf es auch sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung, die die öffentlichen Finanzen aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert.

Von der Finanzsoziologie zur Soziologie fiskalischer Relationen

Bereits in den 1910er-Jahren legten der Soziologe Rudolf Goldscheid und der Ökonom Joseph Schumpeter die Grundlagen für eine „Finanzsoziologie“. Anknüpfend an Ideen der Historischen Schule der Nationalökonomie schlugen sie vor, die Entstehungszusammenhänge von Steuersystemen und ihre gesellschaftlichen Folgen zu analysieren. Dabei lebten Goldscheid und Schumpeter selbst in einer Phase historischen Wandels. Der Erste Weltkrieg ließ die Ausgabenlasten der beteiligten Staaten explodieren, die Entstehung einer großen Klasse von Veteranen veränderte die politischen Verhältnisse, Forderungen nach mehr Demokratie und Wohlfahrtsstaat wurden lauter. Die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und der Zweite Weltkrieg gaben weitere Anstöße zur Gründung moderner Steuer- und Sozialstaaten. Goldscheid hatte pessimistisch auf die Vereinbarkeit von privatem Kapitalbesitz mit einem steuerfinanzierten Staatswesen geschaut. Doch genau diese Kombination erwies sich als Erfolgsmodell während der Trente Glorieuses, der wirtschaftlichen Aufschwungphase nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mit diesen historischen Entwicklungen verlor die Soziologie ihr Interesse an Fiskalordnungen und öffentlichen Finanzen. Nur in der amerikanischen Soziologie wurden die Ideen von Schumpeter und Goldscheid weiterentwickelt.

Heute ist deshalb eine Reformulierung der Fiskalsoziologie vonnöten. Diese Grundlagenarbeit hat Isaac Martin begonnen, der argumentiert, dass öffentliche Finanzen Verpflichtungs- und Anspruchsbeziehungen in der Gesellschaft stiften. Demnach kommt der Fiskalsoziologie die Aufgabe zu, diese Beziehungen zu untersuchen und die Frage zu beantworten, wie sie andere Aspekte sozialer Ordnung beeinflussen. Verpflichtungen und Ansprüche sind zunächst nichtreziproke Geldtransfers, Abgaben etc., die in Gesetzen festgeschrieben sind. Doch Martin sieht in ihnen auch soziale Beziehungen, weil diese Verpflichtungen und Ansprüche auch immer sozialstrukturelle, politische, wirtschaftliche und normative Aspekte miteinschließen.

Für Martin besteht ein „starkes Programm“ der Fiskalsoziologie darin, die kausale Erklärungskraft solcher Fiskalbeziehungen auszutesten. Wie lässt sich erklären, dass Demokratisierungsschübe und -bewegungen aus Konflikten um Steuern hervorgehen? Wie werden die Bezieher von Sozialleistungen zu Anspruchsgruppen, die dann die Sozialpolitik beeinflussen? Um zu verdeutlichen, was soziologisch an diesen Fragen ist, sollen drei Aspekte des Konzepts fiskalischer Beziehungen ausgeführt werden.

Erstens sind fiskalische Relationen bedeutungsoffen: Wo Verteilungsfragen über Verpflichtungs- und Anspruchsbeziehungen verhandelt und wo Marktprozesse institutionalisiert werden, aber auch, was fiskalische Beziehungen für Steuerzahlerinnen, Leistungsbezieher und politische Eliten bedeuten, ist niemals ahistorisch oder kontextunabhängig erklärbar. Bedeutet Steuernzahlen, dass wir Ansprüche auf staatliche Leistungen erwerben? Oder bestätigen Steuerpflichten unsere Mitgliedschaft in einer nationalen Solidargemeinschaft?

Zweitens verbinden fiskalische Relationen politische Entscheidungen mit ökonomischen Praktiken und weiteren gesellschaftlichen Kontexten. Ebenso werden fiskalische Beziehungen in Organisationen und sogar in spezifischen Interaktionen verhandelt.

Drittens verändern sich Fiskalrelationen entlang relativ eigenlogischer Pfade. Die Fiskalsoziologie untersucht, wie sich Veränderungen in Steuer- und Abgabesystemen aus komplexen temporalen Dynamiken ergeben – etwa positive Rückkopplungen, bei denen bestimmte Steuersysteme auf das Verhalten von Bevölkerungsgruppen Einfluss nehmen, die wiederum die Entwicklung von fiskalischen Ordnungen beeinflussen.

Forschungsprojekte am MPIfG

Das Konzept der fiskalischen Relationen bietet einen flexiblen Rahmen, in dem öffentliche Finanzen als genuin soziologische Phänomene verstanden werden können.

In der Forschungsgruppe „Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“ am MPIfG haben wir bislang vor allem Projekte verfolgt, die sich auf eine spezifische Entwicklungstendenz unter westlichen Industriestaaten beziehen: Staaten redefinieren ihre eigenen Aufgaben, Praktiken und Legitimationsquellen im Angesicht von Finanzialisierung, also der Expansion von Finanzmärkten. Mit diesem Wandel verschieben sich auch die Anspruchs- und Verpflichtungsbeziehungen zwischen Staaten und verschiedenen Gruppen.

"Verpflichtungs- und Anspruchsbeziehungen werden jenseits der Konflikte und Verfahren offizieller Haushaltspolitik erzeugt und verhandelt"

So zeigen die Arbeiten von Edin Ibrocevic und mir, dass Finanzialisierung mit einem Bedeutungsgewinn von Zentralbanken als wirtschafts- und finanzpolitische Behörden einhergeht. Diese Organisationen rücken ins Zentrum, weil sie Märkte stabilisieren, Finanzwerte absichern und den Kreditfluss gewährleisten. Deren Handlungen stiften quasifiskalische Beziehungen, die sich deutlich vom Modell eines demokratischen Vertrags zwischen Regierung und Bürgern abheben.

Arjen van der Heide untersucht in seiner Arbeit einen anderen Aspekt derselben Problemstellung. Er erforscht Aushandlungsprozesse zwischen Staaten und Banken als den Erstkäufern („primary dealers“) von neu ausgegebenen öffentlichen Anleihen. Seine Forschung zeigt, dass die Märkte, die aus diesen Beziehungen hervorgehen („primary markets“), besser in Begriffen von Anspruchs- und Verpflichtungsrelationen denn als Institutionen der Privatwirtschaft zu verstehen sind. Auch hier finden die Aushandlungen weitestgehend jenseits der Arenen demokratischer Repräsentation statt.

Schließlich untersucht Vanessa Endrejat, wie Staaten in der Eurozone ihre Ausgabenprogramme mit Unterstützung europäischer Behörden bewusst so ausgestalten, dass die daraus erwachsenden Verpflichtungen in den öffentlichen Statistiken unsichtbar bleiben.

Finanzialisierung hat also oft wenig mit freien Märkten und Deregulierung zu tun, sondern etabliert neue quasifiskalische Verpflichtungs- und Anspruchsbeziehungen. Diese werden jenseits der offiziellen Haushaltspolitik verhandelt. Wie der deutsche Wahlkampf im Jahr 2021 gezeigt hat, heißt dies aber nicht, dass Verteilungsfragen, der Bedarf an öffentlichen Gütern und die Entwicklung von neuen sozial- und klimapolitischen Lösungen nicht (re-)politisiert werden können. Das politische System kann sich durchaus zum zuständigen Ort für die Aushandlung von Ansprüchen und Verpflichtungen erklären. Ob und wie dies im Angesicht der großen Gegenwartsfragen passiert, ist eine der spannendsten Fragen der kommenden Zeit.

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