Never Forget
Eine Gedenkskulptur am Max-Planck-Institut für Hirnforschung erinnert an die tragische Geschichte des Vorgängerinstituts während des Dritten Reichs
Während des Dritten Reichs war das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Hirnforschung, damals in Berlin-Buch, die größte Hirnforschungseinrichtung der Welt. Zu seinen Direktoren gehörten Hugo Spatz und Julius Hallervorden, die sich an der Tötung unschuldiger Menschen beteiligten und die nationalsozialistische Agenda ausnutzten und verbreiteten. Viele Jahre lang nutzten Wissenschaftler*innen Teile der Gehirne dieser unschuldigen Opfer, einschließlich der Gehirne von kognitiv behinderten Kindern, für ihre Forschung. Am 24. Mai 2022 weihten die derzeitigen Direktoren Gilles Laurent, Erin Schuman und Moritz Helmstaedter und emeritierten Direktoren Heinz Wässle und Wolf Singer des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt eine Gedenkskulptur mit dem Titel „Never Forget" ein. Das Mahnmal erinnert an einen besonders grausamen Oktobertag im Jahr 1940, als 58 Kinder aus ihrer Anstalt für geistig Behinderte abgeholt und im Namen der Wissenschaft ermordet wurden.
„Die Stunde, die vor uns liegt, wird wahrscheinlich eine Zeit tiefer Emotionen sein, die von Entsetzen und Unglauben bis zu Hoffnung und hoffentlich zu einem gewissen Maß an Erlösung und Frieden reichen wird." Mit diesen Worten eröffnete Gilles Laurent, Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, die Einweihungsfeier am 24. Mai im Hörsaal des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt.
Die histopathologische Sammlung von Julius Hallervorden
1984 deckte der Journalist und Historiker Götz Aly auf, dass Hirnpräparate von 33 Kindern, die am 28. Oktober 1940 auf Anweisung von Julius Hallervorden ermordet wurden, ohne Wissen der damaligen Institutsleitung noch immer in dem seit 1962 in Frankfurt ansässigen Institut aufbewahrt wurden. „Wir wissen heute, dass an diesem schicksalhaften Tag im Oktober 1940 58 Kinder in der Berliner Anstalt Brandenburg-Görden unter Hallervordens Aufsicht in den Tod geschickt wurden und dass die Gehirne von mindestens 40 von ihnen in seiner histopathologischen Sammlung gelandet sind", sagt Laurent. Alle Präparate wurden am 21. Februar 1990 auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt.
„Wir haben beschlossen, am heutigen Max-Planck-Institut für Hirnforschung ein Mahnmal zu errichten, um die Erinnerung an die begangenen Gräueltaten wach zu halten, damit sich die Geschichte nicht wiederholt", sagt Laurent.
Das Mahnmal wurde beim weltbekannten Atelier Goldstein in Frankfurt in Auftrag gegeben, einem Kunstatelier für Künstler*innen, die als kognitiv behindert wahrgenommen werden. „Das Atelier Goldstein ist der ideale Kooperationspartner, weil die Künstler*innen des Ateliers Menschen mit besonderen Bedürfnissen sind, eine Bevölkerungsgruppe, die auf grausame Weise von Hallervorden ins Visier genommen wurde", so Laurent, bevor er das Mikrofon an Christiane Cuticchio, Leiterin des Ateliers Goldstein, weitergab.
Ein Abbild der Leere und Trostlosigkeit
„Never Forget" ist ein Abbild der Leere und der Trostlosigkeit. Es ist die Sammlung von neun Kinderstühlen, die auf einem Podest angeordnet sind, in das die Namen von 38 der in Brandenburg-Görden getöteten Kinder eingraviert sind. Es sind harte und unbeholfen wirkende, scharfkantige Gegenstände, nichts, was dazu einlädt, sich darauf zu setzen", erzählt Cuticchio. „Manche Stühle stehen noch, andere sind gekippt, als hätte man ihnen ein Kind gewaltsam entrissen. Sie erzählen nicht von kindlicher Behandlung, sondern erinnern uns an die täglichen Qualen und Schmerzen derjenigen, die von ihren Peinigern als „nicht lebenswürdig" bezeichnet wurden."
„Für die Kinder, die alle am 28. Oktober 1940 ermordet wurden, mag ein kahler Stuhl so etwas wie der letzte Halt in ihrem kurzen Leben gewesen sein. Ein Stuhl schien geeignet als Symbol für ihre Abwesenheit. Ein Gegenstand von äußerster Banalität und Alltäglichkeit, der noch da ist, wenn das Wertvollste - die Kinder - bereits zerstört ist."
Für das Konzept und die Umsetzung von „Never Forget" waren Christiane Cuticchio, Sven Fritz und Lutz Pillong verantwortlich. In Zusammenarbeit mit Lothar Zaubitzer und Lutz Pillong entstand das Modell eines Stuhls aus Pappe, der später im Studio Ostpool von Anselm Baumann in neun Exemplaren in Beton gegossen und auf das ebenfalls im Atelier Goldstein entworfene und von Baumann realisierte Podest gestellt wurde. Die 38 Namen der getöteten Kinder wurden von den Atelier Goldstein Künstler*innen Dustin Eckhardt, Tina Herchenröther, Franz von Saalfeld, Markus Schmitz sowie Selbermann entworfen.
Eine Erinnerung und Mahnung
"Die Skulptur wird künftigen Wissenschaftler*innen als Erinnerung und Mahnung dienen, dass es ethische Grenzen gibt, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen. Wir hoffen, dass dieses Mahnmal in der Größenordnung dieses Instituts und dieser Institution dazu beiträgt, den Opfern dieser Verbrechen etwas Würde zurückzugeben", so Laurent abschließend.
Der Enthüllungszeremonie im Foyer des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung folgte eine emotionale Blumenzeremonie. Vierzig Mitarbeitende des MPI für Hirnforschung, die meisten von ihnen Promovierende oder Postdocs, lasen die Namen der Kinder vor und legten für jedes Kind eine einzigartige Blume am Mahnmal nieder.
„Never Forget“ ist ab dem 25. Mai im Foyer des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung (Max-von-Laue-Str. 4, 60438 Frankfurt am Main) öffentlich zu sehen.
Künstlerische Arbeit: Atelier Goldstein, 2022 (Christiane Cuticchio, Sven Fritz, Lutz Pillong)
Finanzierung: Max-Planck-Förderstiftung