Arbeitsteilung unter genetischen Schaltern
Kombinierte Schaltungen deaktivieren überzähliges X-Chromosom genau zum richtigen Zeitpunkt
Zwei X-Chromosomen sind eigentlich eines Zuviel. Die weiblichen Zellen von Säugetieren schalten daher kurzerhand eines davon ab – allerdings nur, wenn die Zellen beginnen, sich zu Geweben zu spezialisieren. Wie Zellen ihre Chromosomen „zählen“ und gleichzeitig wahrnehmen, in welchem Entwicklungsstadium sie sich befinden, hat nun ein Berliner Forschungsteam herausgefunden.
Die Zellen weiblicher Säugetiere haben ein Dosisproblem, denn sie besitzen doppelt so viele X-Chromosomen wie im Körper gebraucht werden. Schon während der frühen embryonalen Entwicklung wird daher eines der beiden zufällig ausgewählt und abgeschaltet. Dazu erwacht das Xist-Gen und es entstehen hunderte RNA-Moleküle, die ein X-Chromosom einhüllen und zu einem kleinen Klümpchen einschrumpfen lassen.
Doch woher weiß die Zelle, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Chromosom abschalten muss – aber nur, wenn zwei vorhanden sind? Ein Forschungsteam um die Lise-Meitner-Gruppenleiterin Edda Schulz am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik ist diesem jahrzehntealten Rätsel nun in den Stammzellen von Mäusen auf die Spur gekommen.
Eine neu entdeckte Schaltung
Die Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen neuen genetischen Schaltkreis im Erbgut identifiziert, der Informationen über das Entwicklungsstadium der Zelle empfängt und an das Xist-Gen weiterleitet. „Wir haben die regulatorische Region identifiziert, die sozusagen das Verlassen des Stammzell-Zustandes abfragt“, sagt Edda Schulz.
Der neu entdeckte, „Xert“ getaufte Gen-Schalter gehört zu den Enhancern (englisch für „Verstärker“). Er allein reicht jedoch nicht aus, um das Deaktivierungsprogramm anzustoßen. Wie die Forschenden herausfanden, ist das Xist-Gen für die Signale nur empfänglich, wenn es frei zugänglich und nicht von weiteren Faktoren blockiert wird. Dies wiederum ist der Fall, wenn zwei X-Chromosomen in der Zelle vorliegen. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann Xist seine Arbeit aufnehmen und das „überzählige“ X-Chromosom ruhigstellen.
Die DNA-Elemente um Xist verrechnen also Informationen aus verschiedenen Quellen, fast wie ein Computer. „Auch eine Zelle besitzt Programme, die sich starten und stoppen lassen. Doch anders als bei einer Maschine aus Leiterbahnen und Silizium bestehen ihre Schaltungen aus Molekülen, die aneinander andocken oder erst durch chemische Reaktionen entstehen“, sagt Schulz.
Gezielt stören, um zu verstehen
„Unser Ziel war, die genetischen Schaltungen nachzuzeichnen, ohne die Schaltpläne zu kennen“, sagt Rutger Gjaltema, Wissenschaftler in Schulz’ Labor und Erstautor der Publikation. „Am Ende haben wir ein recht vollständiges Bild der regulatorischen Landschaft von Xist erhalten.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmten in einem ersten Screening-Versuch 138 DNA-Sequenzen auf dem X-Chromosom, die möglicherweise an der Signalschaltung um das Xist-Gen beteiligt zu sein schienen. Zu jedem der Abschnitte designten sie einen Erbgutschnipsel, der die potenziellen Genschalter einzeln ansteuern und ausknipsen konnte. Die Forschenden verpackten die Schnipsel in Virus-ähnliche Partikel, infizierten Zellen damit und beobachteten, in welchen Fällen die Produktion von Xist-RNA verstärkt oder beeinträchtigt war. „Wir haben zahlreiche bereits bekannte Xist-Regulatoren aufgespürt, das war ein gutes Gefühl, denn es hat uns in unserer Arbeitsweise bestätigt“, sagt Till Schwämmle, ebenfalls Wissenschaftler in Schulz’ Team und Erstautor des Fachartikels. „Spannender war natürlich, dass in den Analysen eine Reihe völlig unbekannter Sequenzen auftauchte.“
Räumliche Teilung der Arbeit
Um die Funktion der bis dato unbekannten DNA-Abschnitte zu untersuchen, verglichen Gjaltema und Schwämmle deren Aktivität in Stammzellen, sich entwickelnden Zellen sowie in Zellen mit zwei oder nur einem X-Chromosom. Dabei fiel auf, dass es zwischen den Genschaltern eine Arbeitsteilung zu geben schien – und eine frappierende räumliche Trennung.
Der erste Schalter befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Xist-Gen und dessen Startsequenz. Er wird erst umgelegt, wenn die doppelte Dosis X-chromosomal kodierter Enzyme vorliegt. Diese Enzyme scheinen den Abbau von Faktoren zu vermitteln, die Abschnitte in der Nähe des Xist-Gens blockieren. Gibt es genug davon, wird das Xist-Gen für die Signale von Xert zugänglich. Bei nur einem X-Chromosom gibt es zu wenig Enzym, Xist bleibt folglich blockiert und kann seine Arbeit nicht aufnehmen.
Der zweite Schalter ist nicht in der Nähe von Xist platziert, erklärt Schulz: „Ähnlich wie bei anderen Entwicklungsgenen ist der Enhancer relativ weit von seinem Zielgen entfernt. Die DNA muss sich also zu einer Schlaufe biegen, um in Kontakt zum Gen zu kommen“, sagt die Wissenschaftlerin. Zusammen mit der Forschungsgruppe um Stefan Mundlos vom MPIMG untersuchte ihr Team die dreidimensionale Struktur des Erbguts rund um das Xist-Gen. „Wir konnten zeigen, dass auf dem DNA-Strang weit voneinander entfernte Signale miteinander integriert werden.“
„Es sind zwei Signalwege miteinander verknüpft“, sagt Schulz. „Die Region in unmittelbarer Nähe zum Xist-Gen schaltet den Mechanismus scharf, sie funktioniert wie ein An-Aus-Schalter. Nur dann kann der Enhancer den Mechanismus auslösen, wenn die Zelle sich weit genug entwickelt hat.“
Ein Modell für andere Entwicklungsgene
"Die neuen Entdeckungen lieferten Anhaltspunkte für Jahre weiterer Studien, um die Deaktivierung des X-Chromosoms vollständig aufzuklären", sagt die Forscherin. Außerdem sei der durch Xist gesteuerte Prozess im Tierreich zwar einzigartig – die genetischen Kontrollmechanismen seien es nicht. Schulz glaubt, dass sich anhand der Xist-Regulation auch andere Entwicklungsgene besser verstehen lassen: „Die X-Inaktivierung ist an sich ein faszinierendes System, aber vor allem ein sehr dankbares Modell, um die regulatorischen Zusammenhänge in unserem Genom besser zu verstehen.“