Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen
Lügen hat seinen Preis – aber nicht für alle den gleichen
Gelegenheit macht Diebe? Wer betrügen will, sucht auch die Gelegenheit
Dass eine günstige Gelegenheit Menschen dazu verführt, zu betrügen, ist eine altbekannte Tatsache. Aber wie viele Leute suchen gezielt nach Gelegenheiten, um betrügen zu können? Und wie viele ziehen umgekehrt eine ehrliche Alternative vor? Diese Fragen haben wir in einem mehrstufigen Laborexperiment untersucht, bei dem die 308 Teilnehmenden eine bestimmte Geldsumme verdienen konnten: entweder indem sie falsche Angaben über ihren tatsächlichen Verdienst machten oder indem sie Investitionen tätigten, die ihre Chancen auf einen hohen Verdienst steigerten [1].
Dabei fanden wir heraus, dass Menschen nicht nur betrügen, weil sich die Gelegenheit ergibt, sondern dass manche Menschen auch bewusst Betrugsmöglichkeiten suchen. Wenn sich dann die Chance bietet, ergreifen sie diese mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit. 73 Prozent der Studienteilnehmenden, die die Gelegenheit zum Betrügen suchten, erlagen schließlich der Versuchung, ihren Verdienst durch eine falsche Angabe zu erhöhen, als sie sich bot. Anders verhalten sich Menschen, die eine solche Situation lieber vermieden hätten und eher unfreiwillig hineingeraten sind. In der Studie machten nur 22 Prozent der Menschen aus dieser Gruppe von der sich bietenden Betrugsmöglichkeit Gebrauch. Letztere vermeiden also nicht nur die Gelegenheit, zu betrügen, sondern können auch der Versuchung widerstehen.
Psychologische Lügenkosten sind entweder sehr hoch oder niedrig
Ob Menschen in diesem Sinne korrumpierbar sind, hängt dabei mit den Kosten zusammen, die das Lügen für sie hat – Kosten, die zum Beispiel in ihren individuellen moralischen Vorstellungen oder in sozialen Normen begründet sind. Unsere Studienergebnisse legen nahe: Es gibt zwei Typen von Menschen. Die einen haben sehr hohe Hemmungen, für einen finanziellen Vorteil zu lügen. Die anderen sind dagegen leicht korrumpierbar und betrügen schon bei kleinen Beträgen.
In unseren Experimenten konnten wir zeigen, dass sich Menschen entsprechend ihren Lügenkosten für ehrliche und unehrliche Verdienstmöglichkeiten entscheiden und dann auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit betrügen oder ehrlich bleiben. Nicht nur macht die Gelegenheit Diebe, der Dieb sucht auch die Gelegenheit. Unehrliche Menschen könnten auch eher dazu neigen,, Berufe zu wählen, die ihnen Möglichkeiten zum Betrügen eröffnen. Daher könnten Screening-Verfahren vor der Einstellung sinnvoll sein.
Betrügerisches Verhalten in Teams – eine Frage der Governance-Struktur
Wenn in Organisationen betrogen wird, sind häufig eine ganze Reihe von Personen involviert. Das wirft neue Forschungsfragen auf: Betrügt es sich in der Gruppe leichter als alleine und sollten wir deswegen ganz auf Teamarbeit verzichten? Und was kann man tun, um Gruppen von unehrlichem Verhalten abzuhalten?
Um diese für Organisationen und Unternehmen wichtigen Fragen zu beantworten, baten wir 268 Versuchspersonen zu einem weiteren Laborexperiment [2]. Im Experiment variierte, ob eine Betrugsentscheidung allein oder im Team zu treffen war und wer die wirtschaftlichen Konsequenzen zu tragen hatte. Neben den psychologischen Lügenkosten hatte Unehrlichkeit aber auch einen finanziellen Aspekt: Unehrliche Angaben konnten bei Aufdeckung sanktioniert werden. So konnten wir untersuchen, ob Teams angesichts einer möglichen Überprüfung unehrlicher sind als Individuen.
Wichtig ist nicht, wer entscheidet, sondern wer haftet
Unsere Ergebnisse zeigen, dass Teams nicht grundsätzlich unehrlicher entscheiden, sondern nur unter bestimmten Umständen: Wenn ein Mitglied einer Gruppe die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Entscheidung voll selbst tragen muss, ist die Gruppe fast genauso ehrlich wie das Individuum. Werden aber die Gewinne und Verluste in der Gruppe geteilt, verhalten sich alle tendenziell unehrlicher. Daraus lässt sich die Empfehlung für Organisation ableiten, Teammitglieder individuell in Haftung zu nehmen, um die Compliance einer Gruppe zu erhöhen.
Dass sich bei gemeinsamer Haftung aller Mitglieder Teams unehrlicher verhalten als Individuen, könnte zwei Ursachen haben: Zum einen wiegt die moralische Verantwortung unter dem Deckmantel der Gruppe möglicherweise leichter. Zum anderen reduziert die gemeinsame Unehrlichkeit gewisse soziale Risiken. Wenn alle zu gleichen Teilen von einer Entscheidung wirtschaftlich betroffen sind, fällt der soziale Vergleich nicht zuungunsten der oder des einen aus.
Intuitive Ehrlichkeit und kalkuliertes Lügen?
In einer weiteren Studie [3] haben wir uns mit der Rolle der Zeitdimension für unehrliches Verhalten beschäftigt. So haben Menschen nicht immer genügend Zeit, eine Betrugsmöglichkeit zu identifizieren und die Vor- und Nachteile einer unehrlichen Angabe abzuwägen – beispielsweise, wenn es darum geht, zu viel herausgegebenes Wechselgeld anzunehmen, oder im Fall einer unerwarteten Zollkontrolle beim Grenzübertritt. Das wirft Fragen auf: Ist unehrliches Verhalten eher eine intuitive, spontane Entscheidung oder brauchen Menschen dazu Bedenkzeit? Und wichtiger noch: Was sind die zugrunde liegenden Ursachen für das Entscheidungsverhalten unter Zeitdruck?
Auch hier brachte ein Laborexperiment eindeutige Ergebnisse: Teilnehmende unter Zeitdruck machen deutlich seltener unehrliche Angaben. Menschen, die sich intuitiv entscheiden müssen, neigen also eher zur Ehrlichkeit. Grund hierfür ist aber nicht etwa, dass sie die betrügerische Entscheidung gründlich durchdenken müssen. Viele Menschen erkennen die Betrugsmöglichkeit unter Zeitdruck erst gar nicht. Entsprechend kommen sie auch nicht in die Versuchung, unehrlich zu sein. Dieser Erkenntnis folgen zwei Empfehlungen: Erstens können überraschende Kontrollen oder Nachfragen sehr effektiv sein, da Menschen unvorbereitet und unter Zeitdruck eher zu ehrlichen Antworten neigen. Zweitens könnte das „Verschleiern“ von Betrugsmöglichkeiten eine erfolgversprechende Strategie sein, um unehrliches Verhalten bereits im Voraus einzudämmen.