"Wissen kann Arten retten"
Walter Jetz und Martin Wikelski erklären im Interview, warum der Artenschutz weniger Aufmerksamkeit erhält als der Klimaschutz
Weltweit sterben immer mehr Arten aus und die Zahl der Tiere und Pflanzen auf der Erde sinkt rapide. Walter Jetz von der Yale University und Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie sprechen darüber, welche Folgen das für die Menschheit haben wird, wie die Weltgemeinschaft das Artensterben stoppen möchte, und welche Rolle dabei die Wissenschaft spielt. Die beiden Wissenschaftler leiten das Max Planck – Yale Center for Biodiversity Movement and Global Change.
Warum ist Biodiversität für den Menschen wichtig?
Martin Wikelski: Eine niedrige Biodiversität begünstigt Schädlinge und Krankheitserreger. In der Folge steigt die Gefahr von Missernten und Pandemien. Der Rückgang der Insekten wiederum bedroht die Bestäubung wichtiger Nutzpflanzen. Und nicht zuletzt verschärft die Biodiversitätskrise den Klimawandel, denn eine große Vielfalt gesunder Ökosysteme kann den Temperaturanstieg effektiver bremsen.
Walter Jetz: Nimmt die Biodiversität ab, werden Ökosysteme instabil. Im schlimmsten Fall brechen sie völlig zusammen. Dabei hat das globale Aussterben von Arten die größten Konsequenzen. Für uns Menschen dauert es viel zu lange, bis wieder Arten mit ähnlichen ökologischen Rollen entstehen. So sind Säugetiere zum Beispiel durchschnittlich seit über 1,5 Millionen Jahre von ihren nächsten Verwandten getrennt. Mit jeder Art die wir lokal oder global verlieren, erhöht sich das Risiko eines Zusammenbruchs von lokalen Ökosystem oder des globalen Systems insgesamt. Für zukünftige Generationen haben wir also eine ethische Verantwortung dafür, dass Arten nicht unseretwegen aussterben.
Die Klimakrise ist in aller Munde. Warum scheint das Artensterben weniger Besorgnis auszulösen?
Jetz: Die Zusammenhänge sind beim Klima eindeutiger und anschaulicher: Wird es wärmer, steigt der Meeresspiegel. Auch die wirtschaftlichen Folgen sind leichter direkt ermittelbar und offensichtlich. Und anders als beim Klima sterben die meisten Arten weit weg, zum Beispiel in den Tropen. Durch diese größere Distanz und unklareren wirtschaftlichen Folgen ist es vielleicht nicht überraschend, dass es den Weltklimarat und seine Berichte bereits seit über 30, den Weltbiodiversitätsrat aber erst seit knapp zehn Jahren gibt.
Wikelski: In der Biodiversitätskrise sind wir heute da, wo wir beim Klimawandel vor 20 Jahren standen. Damals konnte man sich auch nicht vorstellen, welche schrecklichen Konsequenzen die Erderwärmung haben würde. In meinem Geburtsort zum Beispiel hat sich auf den ersten Blick im Vergleich zu früher wenig geändert. Es gibt aber viel weniger Insekten als früher und vielleicht deshalb inzwischen keine Schwalben mehr. Noch sind die Veränderungen schleichend, aber in ein paar Jahren werden die Folgen katastrophal sein. Das macht mir Angst!
In vielen Gebieten der Erde ist die Biodiversität in den letzten Jahrzehnten massiv geschrumpft. Trotzdem ist zum Beispiel die Agrarlandschaft Mitteleuropas höchst produktiv. Umgekehrt ist beispielsweise tropischer Regenwald – also ein Ort hoher Biodiversität – für den Menschen deutlich weniger produktiv. Wie kann das sein?
Jetz: Diese Gebiete sind natürlich nur dank massiver menschlicher Eingriffe in Form von Kunstdünger und Pestiziden produktiv. Wie widerstandsfähig gegenüber Veränderungen solche Ökosysteme sind und ob sie auch in 50 Jahren noch produktiv sind, wissen wir nicht. Außerdem ist es eine Frage der Perspektive: Regenwald mag für die Menschen vor Ort vielleicht nicht so produktiv sein, für das Weltklima ist er dafür umso wichtiger.
Was sind die wichtigsten Gründe für das Artensterben?
Jetz: Im Moment sind das vor allem die Zerstörung von Lebensräumen durch Landwirtschaft sowie Siedlungs- und Straßenbau. In den kommenden Jahren wird der Klimawandel das Artensterben noch weiter beschleunigen. Arten, die sich an die Veränderungen nicht anpassen oder nicht ausweichen können, werden aussterben. Und hier ist auch und gerade die Wissenschaft gefragt! Mit den richtigen Grundlagen haben wir in vielen Fällen noch Zeit, zu reagieren und mit Erkenntnissen den Entscheidungsträgern zu helfen, das Artensterben zu vermindern.
Wo sehen Sie den größten Forschungsbedarf?
Wikelski: Die große Herausforderung besteht darin, Biodiversitätsveränderungen global und langfristig zu untersuchen. Mit dem neuen Satelliten-gestützten Beobachtungssystemen Icarus zum Beispiel können wir unterschiedlichste Tierarten rund um die Uhr überall auf der Erde verfolgen und ihre Positionen mit Umweltdaten verbinden. Damit erfahren wir, welche Bedingungen die Arten zum Überleben benötigen. Und wir können umgekehrt die Tiere als Sensoren für Veränderungen nutzen.
Jetz: Mit neuen Datenquellen, beispielsweise Satelliten-basierten oder lokalen Sensoren und neuen theoretischen und statistischen Ansätzen zur Informationsverknüpfung lassen sich lokale, regionale und globale Zusammenhänge entschlüsseln. Damit können wir Biodiversität nicht nur erfassen, sondern auch die Beziehungen zwischen Arten und die Gründe für Veränderungen in Häufigkeit und Verbreitung analysieren. Zu diesem Zweck haben wir auch das Max-Planck-Yale-Center for Biodiversity Movement und Global Change gegründet. Anders als in der Klimawissenschaft gibt es aber auf dem Gebiet der Biodiversitätsforschung weltweit keine großen Forschungsreinrichtungen, in denen die Fäden zusammenlaufen. Wir brauchen aber eine globale Ökologie- und Biodiversitätsforschung. Dafür böte die Max-Planck-Gesellschaft mit ihrer internationalen Ausrichtung und ihrem auf Langfristigkeit angelegten Forschungsansatz eigentlich ideale Bedingungen.
Die Biodiversitätskonferenz zu Biodiversität der UN wird dieser Tage virtuell eröffnet und soll im Mai 2022 abgeschlossen werden. Wie kann denn sichergestellt werden, dass die Ziele, die auf dieser Konferenz beschlossen werden, tatsächlich erreicht werden?
Jetz: Die Wissenschaft nimmt dieses Mal eine zentralere Rolle ein als auf der Konferenz in Aichi vor zehn Jahren. Wissenschaftliche Erkenntnisse fließen direkt in die Ausarbeitung der Ziele mit ein und es wird versucht, die Ziele engmaschiger mit einer möglichen Messung zu verbinden. Außerdem müssen die Länder regelmäßig über den Zustand der Biodiversität berichten.