Covid-19 senkt Lebenserwartung in 31 Ländern
Sterberisiko steigt durch die Pandemie deutlich
Ein Demografenteam hat für 37 Länder berechnet, wie sich die Covid-19-Pandemie auf die Sterblichkeit im Jahr 2020 ausgewirkt hat. Demnach sank im vergangenen Jahr die Lebenserwartung in 31 der 37 untersuchten Länder. Insgesamt gingen dort etwa 28 Millionen Lebensjahre mehr verloren als erwartet. Bereits im September 2021 hatten Forschende unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Demografie in einer Studie mit vorläufigen Daten über einen Rückgang der Periodenlebenserwartung in 27 Ländern berichtet.
In Europa sind wir es seit Jahrzehnten gewohnt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Jahr zu Jahr um einige Wochen oder wenige Monate steigt. Nun hat die Covid-19 Pandemie diese Entwicklung vorerst gestoppt.
Das geht aus einer Studie hervor, die Dmitri Jdanov, Leiter des Arbeitsbereichs Demografische Daten am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, zusammen mit Forschenden der Universitäten Oxford und Cambridge veröffentlicht hat. Darin berechnete das Team anhand zuverlässiger und vollständiger Datensätze die Sterblichkeit für 37 Länder mit hohem und mittlerem Einkommen . „In dieser Studie haben wir die tatsächliche Lebenserwartung und die Zahl verlorener Lebensjahre im Jahr 2020 mit den Werten verglichen, die auf Grundlage der Daten von 2005 bis 2019 zu erwarten wären“, sagt Dmitri Jdanov.
Gestiegene Lebenserwartung in Neuseeland, Taiwan und Norwegen
Die Forschenden stellten fest, dass die Lebenserwartung für Männer und Frauen in 31 der 37 untersuchten Länder sank. In Neuseeland, Taiwan und Norwegen stieg dagegen die Lebenserwartung im vergangenen Jahr. In Dänemark, Island und Südkorea veränderte sich die Lebenserwartung nicht. Am stärksten sank die Lebenserwartung mit 2,33 Jahren für Männer in Russland, für Frauen in Russland ging sie um 2,14 Jahre zurück. An zweiter Stelle in dieser Auswertung liegen die USA, wo die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer um 2,27 Jahre und der Frauen um 1,61 Jahre fiel. In Bulgarien sank sie für Männer um 1,96 Jahre und für Frauen um 1,37 Jahre.
Die Lebenserwartung gibt an, wie lange Menschen im Durchschnitt leben werden, wenn die Umstände des untersuchten Jahres, ausgedrückt in der demografischen Metrik der altersspezifischen Sterblichkeitsrate, für den Rest ihres Lebens konstant blieben.
Männer verloren 17,3 Millionen Lebensjahre mehr als erwartet, Frauen 10,8 Millionen
In den 31 Ländern, in denen die Lebenserwartung 2020 gesunken ist, gingen mehr als 222 Millionen Lebensjahre verloren. Das sind 28,1 Millionen verlorene Lebensjahre mehr als erwartet. Davon haben Männer 17,3 Millionen Lebensjahre verloren, Frauen 10,8 Millionen. Dieser Wert ist mehr als fünfmal so hoch wie bei der Grippe-Epidemie 2015.
Der Wert der verlorenen Lebensjahre betrachtet die Differenz zwischen der Lebenserwartung und dem vorzeitigen Tod. Sie schätzt die durchschnittliche Anzahl an Jahren ab, die eine Person noch gelebt hätte, wenn sie nicht vorzeitig gestorben wäre. Wenn Menschen in einem höheren Alter sterben, verlieren sie weniger Lebensjahre als jüngere Menschen.
„Obwohl wir überzeugt sind, dass die Übersterblichkeit die ideale Methode ist, die Auswirkungen der Pandemie zu bemessen, berücksichtigt sie das Alter zum Zeitpunkt des Todes nicht“, sagt Dmitri Jdanov. Im Gegensatz dazu beachtet die Methode der verlorenen Lebensjahre die Altersverteilung der Sterblichkeit, indem sie Todesfälle in jüngerem Alter stärker gewichtet.
Direkte und indirekte Auswirkungen der Pandemie auf die Sterblichkeit
Die Forschenden nutzten Daten über die Gesamtsterblichkeit aus der Human Mortality Database für die Jahre 2005 bis 2020, die harmonisiert und nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt wurden. Die gesunkene Lebenserwartung wurde als Differenz zwischen der beobachteten und der erwarteten Lebenserwartung für das Jahr 2020 berechnet. Der Überschuss an verlorenen Lebensjahren wurde als Differenz zwischen den beobachteten und den erwarteten verlorenen Lebensjahren ermittelt.
„Diese Methode erfasst sowohl die direkten Auswirkungen, also Todesfälle durch Covid-19, als auch die indirekten Auswirkungen der Pandemie und der damit verbundenen Maßnahmen“, sagt Dmitri Jdanov.
Bestärkung einer früheren Studie zur Perioden-Lebenserwartung
Bereits im September hatte der Rostocker Demograf Jonas Schöley gemeinsam mit weiteren Forschenden eine Studie veröffentlicht, die die Entwicklung der Lebenserwartung zwischen 2019 und 2020 in 29 Ländern untersuchte und wichtige Informationen über die Unterschiede zwischen den Ländern enthielt. Demnach sank die Perioden-Lebenserwartung von Männern und Frauen nur in Dänemark und Norwegen nicht. Dort waren die Zahlen der Covid-19-Toten im internationalen Vergleich niedrig. Gleichzeitig ging die Sterblichkeit durch andere Todesursachen weiter zurück. Auch Deutschland verzeichnete nach dieser Studie einen Rückgang anderer Todesursachen. Nur war dieser geringer als in Dänemark und Norwegen, die Zahl der Covid-19-Todesfälle dagegen höher. Dadurch sank in Deutschland die Perioden-Lebenserwartung 2020 für Männer um etwas mehr als vier Monate und für Frauen um mehr als zweieinhalb Monate.
In den meisten Ländern ist die Perioden-Lebenserwartung stärker gesunken, als sie in den fünf Jahren vor der Pandemie gestiegen ist. „In vielen westeuropäischen Ländern wie Spanien, England, Italien, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden gab es seit dem Zweiten Weltkrieg keine Verluste in dieser Größenordnung mehr“, sagt Jonas Schöley.
Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Oxford und der University of Southern Denmark berechnete er die Perioden-Lebenserwartung für das Jahr 2020. Grundlage dafür war die zeitnahe Veröffentlichung wöchentlicher Sterbefalldaten in zahlreichen Ländern. Schöley und das Team nutzten dabei Datensätze, die von MPIDR-Forschenden in der STMF-Datenbank und der COVerAGE-Datenbank zusammengestellt wurden. Damit basierte diese Studie auf vorläufigen Sterbe-Statistiken und enthielt keine Daten aus acht weiteren Ländern, die in die anfangs beschriebene Studie von Nazrul Islam, Dmitri A Jdanov und ihrem Team eingeflossen sind.
Perioden-Lebenserwartung sagt nichts über Lebensspanne von 2020 Geborenen
Die Periodenlebenserwartung reflektiert das Sterberisiko, dem eine Bevölkerung innerhalb eines Jahres ausgesetzt war. Steigt das Risiko in einem Jahr zu sterben, etwa durch eine Hitzewelle oder eben durch eine Pandemie, sinkt die Lebenserwartung. Wenn das Sterberisiko dagegen sinkt, steigt die Lebenserwartung.
„Die Periodenlebenserwartung ist als Maß in der Pandemie besonders geeignet um Länder miteinander zu vergleichen“, sagt Jonas Schöley. Denn sie werde nicht von der Altersstruktur und der Größe der Bevölkerung beeinflusst. Entscheidend seien während der Pandemie dagegen das Infektionsgeschehen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems.
„Trotz der Bezeichnung Lebenserwartung lassen sich aus den Werten aber keine Schlussfolgerungen über den Einfluss der Pandemie auf die durchschnittliche Lebensspanne von Kindern ziehen, die 2020 geboren wurden“, sagt Jonas Schöley.