Verlorene Lebenszeit durch Corona
Außerhalb der Industrienationen sind unter den Opfern zahlreiche jüngere Menschen, die besonders viel Lebenszeit verlieren
Um die Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Sterblichkeit richtig einzuschätzen, reicht es nicht, die Toten zu zählen. Deshalb hat ein internationales Team mit Forschern des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung 1,2 Millionen Todesfälle aus 81 Ländern ausgewertet. Sie fanden heraus, wie alt die Menschen waren, die an COVID-19 gestorben sind – und damit, wie stark ihre Leben im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung verkürzt wurden.
Nach Schätzungen der Forschenden kostete die Pandemie bislang 20,6 Millionen Lebensjahre. „Menschen in der Mitte ihres Lebens und im frühen Rentenalter tragen im weltweiten Vergleich den größten Anteil an den insgesamt verlorenen Lebensjahren“, sagt Mikko Myrskylä, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Zusammen mit Héctor Pifarré i Arolas von der Universitat Pompeu Fabra in Spanien leitete er das internationale Forschungsteam.
Starb der größte Teil der Menschen in hohem Alter, geht man davon aus, dass weniger Lebensjahre verloren werden als im Falle vieler junger Toter. Im globalen Durchschnitt entfallen nur knapp 25 Prozent der verlorenen Lebensjahre auf Verstorbene, die älter als 75 Jahre waren. Rund 45 Prozent der Lebensjahre haben Menschen im Alter zwischen 55 und 75 Jahren verloren. Die Bevölkerung unter 55 Jahren trägt einen Anteil von rund 30 Prozent. Damit entfallen 75 Prozent der verlorenen Lebensjahre auf Menschen, die jünger waren als 75 Jahre. Das steht im deutlichen Gegensatz zur häufig verbreiteten Meinung, dass nur Menschen an COVID-19 stürben, die sowieso nur noch wenige Jahre zu leben hätten. „Deshalb sollten auch Maßnahmen ergriffen werden, die jüngere Teile der Bevölkerung schützen“, sagt Mikko Myrskylä.
Ein Blick auf die Details zeigt: In Ländern mit hohen Einkommen trägt die älteste Bevölkerungsgruppe über 75 Jahren meist über die Hälfte der verlorenen Lebensjahre. Genau umgekehrt ist dieses Bild in Ländern mit mittlerem und niedrigen Lohnniveau. Hier ist der Anteil der verlorenen Lebensjahre in der jüngsten Bevölkerungsgruppe unter 55 Jahren größer. Besonders deutlich tritt die COVID-19 Sterblichkeit in diesem Vergleich hervor: In besonders betroffenen Ländern, wie Italien und den USA, verlor die Bevölkerung bis zu neun Mal mehr Lebensjahre, als während einer durchschnittlichen Grippe-Saison.
Sterblichkeit mit passender Methode erfassen
Über geeignete Methoden, die COVID-19-Sterblichkeit möglichst genau zu erheben, wird viel diskutiert. „Jede Methode hat ihre eigenen Stärken und Schwächen“, sagt Mikko Myrskylä. Die Infektionssterblichkeit erfasst nur die Teilgruppe der Personen, deren COVID-19-Infektion bestätigt ist. Ohne die tatsächliche Zahl Infizierter zu kennen, ist die Infektionssterblichkeit nur schwer mit demografischen Modellen abzuschätzen.
Die Zahl der Sterbefälle, die COVID-19 zugeschrieben werden, kann die tatsächliche Zahl der COVID-19 Todesfälle sowohl über- als auch unterschätzen. Denn sie hängt davon ab, durch welche Kriterien ein Todesfall als COVID-19-Todesfall registriert wird; das unterscheidet sich von Land zu Land. Die Übersterblichkeit vergleicht Sterblichkeitsraten während der Pandemie mit einem Basiswert, der sich aus den vergangenen Jahren ableitet. Diesen Basiswert richtig abzuschätzen ist dabei die komplexe Voraussetzung.
Wegen dieser und weiterer methodischer Herausforderungen stellen auch die Ergebnisse der vorliegenden Studie nur eine Momentaufnahme während der Pandemie dar. Sie können die tatsächliche Zahl verlorener Lebensjahre sowohl überschätzen als auch unterschätzen. „Trotzdem bestätigen unsere Ergebnisse, dass die Auswirkungen der Pandemie auf die Sterblichkeit groß sind, und zwar nicht nur in Bezug auf die absolute Zahl der Toten, sondern auch bezogen auf verlorene Lebensjahre“, sagt Mikko Myrskylä.