Viren aus der Wildnis
Die Zerstörung von Lebensräumen und der Verlust an Biodiversität erhöhen die Gefahr, dass Krankheitserreger von Wildtieren auf den Menschen überspringen
Roman Wittig weiß, wie es ist, wenn ein Virus seinen Wirt wechselt. Er hat dies im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste mehrfach erlebt – zuletzt vor vier Jahren, als ein für Menschen harmloses Corona-Virus von Menschen auf Schimpansen übersprang. Der Wissenschaftler leitet das Schimpansen-Projekt des Max-Planck- Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Zusammen mit Fabian Leendertz vom Robert Koch-Institut in Berlin untersucht er die Krankheitserreger der Schimpansen und welche davon auch dem Menschen gefährlich werden könnten.
Text: Catarina Pietschmann
Als das Coronavirus die Elfenbeinküste erreichte, musste alles ganz schnell gehen: Wer vom Team bleibt hier? Wer fliegt zurück nach Deutschland? „Um die Mitarbeiter haben wir uns weniger Sorgen gemacht, denn dort im Wald sind sie isoliert und optimal geschützt“, sagt Roman Wittig. Er wollte vielmehr die Schimpansen des Taï-Nationalparks vor einer Ansteckung schützen – aber nicht nur davor: „Wären alle nach Hause geflogen, dann wären die Tiere Wilderern schutzlos ausgeliefert gewesen.“ Zoonosen wie Sars-CoV-2 sind Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden – oder umgekehrt. Die Erreger können Viren sein, aber auch Bakterien, Pilze, Würmer oder infektiöse Proteine – sogenannte Prionen. Schweine, Nagetiere, Vögel und Fledertiere – Fledermäuse und Flughunde – waren in der Vergangenheit immer wieder Ausgangspunkt und Ziel solcher Wirtswechsel. Dies gilt auch für unsere engsten tierischen Verwandten, die Menschenaffen. Mit Schimpansen zum Beispiel teilen wir schließlich 99 Prozent unseres Erbguts.
Besonders anfällig sind Schimpansen für Atemwegserkrankungen. Bereits in den 1990er-Jahren fielen im Nationalpark wiederholt viele der Tiere rätselhaften Infekten zum Opfer. „Die Schimpansen husteten und schnieften. Sie wurden lethargisch und verloren ihren Appetit. Anstatt in den Bäumen schliefen sie am Boden – etwas, was die Tiere aus Angst vor Leoparden sonst niemals tun“, so Wittig. 1999 kam es zu einer heftigen Infektionswelle. Bei 50 bis 70 Prozent der Tiere riefen die Infektionen starke Symptome hervor, beinahe jedes fünfte Tier starb. Auch Christophe Boesch war damals ratlos. Der Verhaltensforscher hatte das Schimpansen-Projekt im Taï-Nationalpark im Jahr 1979 gemeinsam mit seiner Frau Hedwige gegründet und es 1997 als Direktor der Abteilung Primatologie an das Leipziger Max-Planck-Institut überführt. Um die Todesfälle aufzuklären, flog Fabian Leendertz für 13 Monate in das letzte großflächige Regenwaldgebiet Westafrikas. Es war der Beginn einer bis heute engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen.
„In den letzten 20 Jahren gab es mehrere kleine und große Krankheitsausbrüche. Wir haben dann alle kranken und verstorbenen Tiere untersucht und von erkrankten Tieren Kotproben gesammelt. Tote Tiere haben wir unter strengen Sicherheitsvorkehrungen autopsiert, denn wir wussten, dass es auch Fälle von Ebola bei Schimpansen gegeben hatte“, erzählt Leendertz. Die Analysen ergaben, dass zahlreiche Ausbrüche auf Atemwegserkrankungen zurückgehen.
Krankheitserreger vom Menschen
Leendertz konnte verschiedene Erkältungsviren sowie ein Coronavirus namens OC43 nachweisen. Die Viren stammen vom Menschen und rufen beim erwachsenen Menschen nur milde Symptome hervor. Das Immunsystem der Affen dagegen konnte dem für die Tiere neuen Erreger nichts entgegensetzen. Leendertz wies in den Schimpansen zudem Streptococcus pneumoniae-Bakterien nach – sogenannte Pneumokokken, die ebenfalls vom Menschen übertragen werden können. „Heute wissen wir, dass eine solche sekundäre bakterielle Infektion mitbestimmen kann, wie schwer eine Viruserkrankung verläuft.“
Um Wildtiere künftig vor Krankheiten des Menschen zu schützen, entwickelten die Forschenden strenge Umgangs- und Hygienerichtlinien. Diese gelten bis heute. Jeder, der zu Forschungszwecken in eines der vier Camps des Taï-Nationalparks kommt, muss für fünf Tage in Quarantäne. „Auch Händewaschen und das Tragen einer Maske ist Pflicht“, sagt Wittig. Seit dieser Zeit überprüfen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Gesundheit der Schimpansen im Taï-Nationalpark: Das Team sammelt Kot- und Urinproben und untersucht diese im Labor auf Krankheitserreger.
Aber nicht nur der Mensch kann Erreger auf Tiere übertragen. In den Urwäldern der Erde schlummert eine Vielzahl unbekannter Viren, Bakterien und Parasiten, die dem Menschen gefährlich werden könnten. Lange jagten Wissenschaftler deshalb Mücken, Mäusen oder Fledertieren hinterher und untersuchten die in ihnen vorkommenden Erreger. Aber dadurch lässt sich leider nicht herausfinden, welche Erreger tatsächlich Krankheiten bei Menschen auslösen können. Menschenaffen hingegen sind für ein ganz ähnliches Erregerspektrum empfänglich wie der Mensch. Häufig erkranken sie auch an denselben Infektionen. „Erreger, die wir bei ihnen finden, könnten also auf dem Sprung zu uns sein. Wir nutzen die Tiere deshalb heute als Indikatoren für neue potenziell gefährliche Keime“, erklärt Leendertz. Für den Veterinärmediziner ist der Regenwald ein riesiges Freiluftlabor. „Die Tiere leben hier in ihrer natürlichen Umgebung. Wenn sie krank werden, helfen sie uns, die Verursacher zu identifizieren.“
Schatz im Kühlraum
Mehr als 50 000 Kot- und 40 000 Urinproben, außerdem Gewebe von den Autopsien und Erbgutproben lagern mittlerweile in den Kühlräumen des Max-Planck- und des Robert Koch-Instituts. In den meisten Fällen wissen die Forschenden sogar, von welchem Schimpansen eine Probe stammt. „Solche Langzeitdaten sind ein ungeheurer Schatz. Er wird mit der Zeit immer wertvoller, weil es nur wenige Untersuchungen gibt, die so lange zurückreichen“, erklärt Roman Wittig.
Dank immer neuer Technologien können die Forschenden sogar bereits analysierte Proben neu untersuchen und zum Beispiel den Ernährungsstatus oder Veränderungen des Immunsystems und der Darmflora aufklären. Als sie bei toten Schimpansen zum Beispiel einen neuen, untypischen Milzbranderreger entdeckten, Bacillus cereus biovar anthracis, analysierten sie auch ältere Knochen- und Gewebeproben. Das Ergebnis: 31 von 55 toten Tieren waren bereits mit dem Bakterium infiziert. Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass der Erreger auch für den Tod zahlreicher wild lebender Schimpansen, Gorillas und Elefanten in Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik verantwortlich war. „Mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass sich in der Region auch Menschen mit dem Erreger infiziert haben“, sagt Leendertz.
Auch den Erreger der Affenpocken konnten die Forscher kürzlich in Proben von mehreren Ausbrüchen nachweisen. Diese Viruserkrankung ist auf Menschen übertragbar und kann eine milde pockenähnliche Erkrankung auslösen, aber auch tödlich verlaufen. Die Liste der bisher bekannten Zoonosen umfasst über 200 Erkrankungen, von A wie Affenpocken bis Z wie Zika. Zu den prominentesten Vertretern zählt das Lassavirus, erstmals aufgetreten 1969. Noch immer gibt es bis zu 300 000 Neuinfizierte pro Jahr. 1983 folgte HIV und forderte bis heute weltweit 41 Millionen Todesopfer. Dann ging es Schlag auf Schlag: seit den 1990er-Jahren die Vogelgrippe H5N1, 2003 Sars, 2009 die Schweinegrippe H1N1, 2011 Mers, 2014 Ebola, 2015 Zika. Und nun Sars-CoV-2. Fabian Leendertz überrascht das nicht. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Erreger den Sprung auf den Menschen schafft, denn der Mensch tut alles, um Zoonosen zu fördern: Er dringt immer weiter in bislang unberührte Regionen vor und kommt dabei auf enger werdendem Raum stärker mit Wildtieren in Kontakt. Er jagt, handelt und isst Wildtiere in großem Stil. Und dank der heutigen Mobilität kann er Erreger innerhalb kürzester Zeit über den gesamten Globus verbreiten.
Weltweit erhöht die meist illegale Jagd nach Wildtieren die Gefahr, dass Erreger von Tieren auf den Menschen übergehen. Auch in Afrika hat der Verzehr von „Buschfleisch“ lange Tradition. „Die Menschen schreiben Wildtieren besondere Kräfte zu. Der Glaube ist weit verbreitet, dass diese Kräfte auf sie übergehen, wenn sie die Tiere essen.“ Hinzu kommt, dass viele Tiere so selten geworden sind, dass die Preise in astronomische Höhen geschnellt sind. Produkte aus Wildtieren sind dadurch zu Statussymbolen für die Reichen geworden. Das Horn von Nashörnern ist in China und Vietnam so begehrt, dass es inzwischen in Gold aufgewogen wird. Zwar ist die Jagd auf Wildtiere in zahlreichen Ländern Afrikas verboten, aber die Kontrollen sind lax und die Gewinne verlockend. Auf dem Flughafen von Abidjan wurde Leendertz selbst Zeuge, wie der Zoll eine Mitreisende aufforderte, ihren Koffer zu öffnen: Er war voll mit getrockneten Affen.
Gesunde Natur – gesunde Menschen
Der immer weiter fortschreitenden Zerstörung halten Roman Wittig und Fabian Leendertz das sogenannte „One Health“-Konzept entgegen, das die Gefahr neuer Pandemien verringern soll. „Es zeigt sich einfach immer mehr, dass Zoonosen durch ein gestörtes ökologisches Gleichgewicht begünstigt werden. Wir brauchen also gesunde Ökosysteme für unsere Gesundheit. Daher sollten wir alles tun, um die Abholzung der Regenwälder, die illegale Jagd auf Wildtiere und den Klimawandel zu stoppen“, fordert Wittig.
Da die großen Tiere in vielen Regionen ausgerottet worden sind, konzentrieren sich die Wilderer inzwischen auf kleinere Beute. Fledertiere zum Beispiel werden heute zu Hunderttausenden gejagt. Sie sind aber nicht nur begehrte Fleischlieferanten, sondern sie beherbergen auch eine Fülle an Mikroorganismen. „Flughunde und Fledermäuse sind ideale Wirte, denn sie sind eine sehr artenreiche Gruppe und tragen allein deshalb schon eine Vielfalt an Erregern in sich. Diese können sich zudem schnell über große Strecken verbreiten, da Fledertiere bei ihren nächtlichen Beuteflügen große Distanzen zurücklegen“, sagt Leendertz. Es ist also kein Zufall, dass Sars, Marburg, Ebola oder das neue Coronavirus ihren Ursprung bei diesen flugtüchtigen Säugetieren haben.
Fledermäuse erfüllen wichtige ökologische Funktionen
Doch wie gelangt ein Virus von einem Fledertier zu einem Schimpansen? „Nachts nascht ein Flughund von einer reifen Feige und hinterlässt dabei Speichel. Ein Schimpanse frisst am nächsten Morgen den Rest dieser Frucht, und schon sind die darin enthaltenen Mikroben in einem neuen Organismus angekommen“, so Leendertz. Wenn es ihnen nun gelingt, dem Immunsystem des Affen zu entgehen, sich in seinem Körper zu vermehren und dann auch noch andere Schimpansen zu infizieren, ist der Wirtswechsel geglückt.
Als Insektenfresser haben Fledermäuse zwar keinen mit Schimpansen überlappenden Speiseplan. Kontaktmöglichkeiten bietet aber ihre Gewohnheit, in hohlen Bäumen zu schlafen. „Durstige Schimpansen finden oft Wasserpfützen in solch einem Baum. Sie zerkauen Blätter, stecken diesen ,Schwamm‘ in die Pfütze und saugen ihn aus – und schon kann ein Virus oder Bakterium seinen Weg in den neuen Wirt finden.“
Fledertiere wegen ihrer „Mitbewohner“ zu verteufeln, sie aus Häusern zu vertreiben oder gar auszurotten, wäre aber keine gute Idee. Flughunde wiederum ernähren sich rein vegetarisch von Früchten, Pollen, Nektar und Blüten und sind deshalb wichtige Bestäuber. Mit dem Kot scheiden sie die Kerne und Samen ihrer Mahlzeit weitab wieder aus und tragen so ganz wesentlich zur Aufforstung der Regenwälder bei. „Auch Fledermäuse leisten sehr viel für uns Menschen, selbst in Großstädten wie Berlin“, betont Leendertz. Die Tiere können pro Nacht ein Drittel ihres Körpergewichts an Insekten vertilgen – darunter auch Stechmücken. „Ohne Fledermäuse gäbe es Malariaepidemien in Regionen, in denen diese Krankheit bisher kaum ein Problem ist.“ Außerdem kommt in den Fledermäusen Mitteleuropas keines der für Menschen gefährlichen Coronaviren vor.
Hilfe für kranke Schimpansen
Kümmern sich Schimpansen eigentlich umeinander, wenn einer der ihren krank ist? „Ja, das kommt immer wieder vor. Wir haben zum Beispiel kürzlich beobachtet, wie ein Leopard ein ausgewachsenes Weibchen angegriffen und beim Kampf regelrecht skalpiert hat. Kinder und Freunde der Äffin kamen immer wieder und leckten die Wunde ab. Sie hat es überlebt“, erzählt Roman Wittig. „Wenn ein Jungtier krank ist und der Gruppe nicht folgen kann, dann lässt die Mutter es auf einem Baum zurück, der Früchte trägt. Sie kommt alle zwei Tage, um nach ihm zu sehen, bis es wieder gesund ist.“
Stirbt ein Alphamännchen oder ein altes Weibchen, kommen die Mitglieder der Gruppe zusammen, berühren den Leichnam und pflegen ihm das Fell. Manche Tiere lassen dagegen ihrem Frust freien Lauf. „Als Ravel, ein 15-jähriges Männchen, starb, versuchte sein bester Freund, Oscar, mit dem er aufgewachsen war, immer wieder, den toten Körper hochzuziehen und zum Aufstehen zu bewegen. Als das jedoch nicht funktionierte, rannte er schreiend umher und warf mit Stöcken um sich“, erzählt Wittig. Manchmal werden tote Tiere auch mit Ästen oder Blättern bedeckt.
Helfen die Forscher kranken Schimpansen? Roman Wittig verneint: „Wir möchten die Tiere in ihrem natürlichen Leben beobachten. Dazu gehören Krankheiten und Verletzungen – da wollen wir uns nicht einmischen.“
Eine Ausnahme gab es jedoch: „Als uns klar wurde, dass wir die Tiere mit unseren Erkältungsviren angesteckt hatten, und wir noch nicht wussten, wie wir sie schützen können.“ Gegen die Sekundärinfektionen mit den ebenfalls von Menschen übertragenen Pneumokokken spritzte Fabian Leendertz einigen erkrankten Tieren mit einem Blasrohr ein Antibiotikum – darunter auch Sumatra, einem damals schwer erkrankten Weibchen. Das ist nun schon mehr als 20 Jahre her – und Sumatra dank der Therapie eine sehr alte Schimpansendame.
Schimpansen sind also sehr empfindlich für Infektionen der Atemwege. Sollte Sars-CoV-2 die Schimpansen des Taï-Nationalparks erreichen, könnten die Folgen für die Tiere dramatisch sein. Gäbe es eine Impfung – zumindest die an die Forscher gewöhnten Tiere würde Roman Wittig wohl impfen. „Für die Schimpansen des Taï-Nationalparks geht es ums Überleben: Von 3000 Tieren im Jahr 2000 leben heute nur noch 300. Es ist unsere moralische Pflicht, die Schimpansen vor einer Krankheitswelle zu schützen, die wir selbst ausgelöst haben.“