Selbsthemmende Gene ermöglichen neue Formen
Die Evolution fördert Neuerungen, indem sie die Aktivität von Entwicklungsgenen in engen Grenzen hält
Für die Evolution sind Gene besonders wichtig, die die Entwicklung eines Lebewesens von der Eizelle bis zum ausgewachsenen Organismus steuern. Veränderungen dieser Gene führen bei Pflanzen und Tieren häufig zu einem neuen Erscheinungsbild. Da Entwicklungsgene jedoch meist mehrere Vorgänge beeinflussen, bergen Mutationen das Risiko von "Kollateralschäden". Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln haben nun herausgefunden, dass Gene die potenziellen Nebenwirkungen einer Mutation reduzieren, indem sie sich selbst hemmen. Auf diese Weise können neue Formen entstehen.
Angenommen, ein Vogel entwickelt eine neue Flügelform, mit der er besser fliegen und dadurch besser überleben kann. Wenn die zugrundeliegende Mutation gleichzeitig auch die Farbe des Vogels verändert und ihn dadurch für Weibchen weniger attraktiv macht, würde die an sich vorteilhafte Veränderung der Flügelform sehr wahrscheinlich wieder verschwinden. Wie also verhindert die Natur, dass die Nebenwirkungen von Genveränderungen Neuentwicklungen unterbinden? Ein internationales Team um Max-Planck-Direktor Direktor Miltos Tsiantis hat dies am Beispiel von Pflanzenblättern untersucht.
Die Forscher haben in ihrer neuen Studie die Blattform des Behaarten Schaumkrauts untersucht, einem kleinen Unkraut, das Tsiantis und sein Team zu einem Modell für die Evolution der Blattform entwickelt hat. Die Studie baut auf früheren Arbeiten der Gruppe auf, in denen die Wissenschaftler ein Gen namens RCO gefunden haben. Das RCO-Gen bildet einen Transkriptionsfaktor – ein Protein, das andere Gene ein- oder ausschalten kann. Je nachdem, an welchen Stellen im sich entwickelnden Blatt RCO aktiv ist, entstehen andere Blattformen.
Potenziell schädliche Einflüsse werden blockiert
Den Forschern zufolge kann RCO seine eigene Aktivität unterdrücken. „Da die Selbstunterdrückung von RCO den Umfang seiner Aktivität einschränkt, werden potenziell schädliche Einflüsse auf die Entwicklung und Funktion von Zellen blockiert", erklärt Mike Levine, Direktor des Lewis-Sigler Institute for Integrative Genomics an der Universität Princeton und nicht an der Studie beteiligt.
Als nächstes identifizierten die Wissenschaftler die von RCO betroffenen Gene und fanden heraus, dass viele von ihnen für die lokalen Zytokinin-Spiegel regulieren. Zytokinin ist ein weit verbreitetes Pflanzenhormon, das das Wachstum von Zellen fördert. Kontrolliert RCO seine eigene Aktivität nicht mehr ausreichend, wird zu viel Zytokinin gebildet und die Blattform dadurch negativ verändert. Die Selbsthemmung könnte demnach dazu führen, dass neuartige Blattformen entstehen können, ohne dass sie der Pflanze schaden.
Schwache Bindungsstellen
Besonders interessant ist, dass sich RCO auf sehr unterschiedliche Weise selbst hemmen kann. Die Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Selbsthemmung auf vielen schwachen Wechselwirkungen zwischen dem RCO-Protein und der regulatorischen DNA an schwachen Bindungsstellen beruht. "Solche Bindungsstellen können sich relativ schnell entwickeln und eröffnen so der Evolution einen einfachen Weg, die Aktivität eines Kontrollgens zu senken und dadurch viele andere Gene zu kontrollieren", erklärt Tsiantis.
Die Ergebnisse zeigen, dass schwache Bindungsstellen für Transkriptionsfaktoren eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuer Formen spielen können. Die schwachen Bindungsstellen dämpfen die Auswirkungen von Veränderungen der RCO-Aktivität und erlauben eine Feinabstimmung des Zytokinin-Spiegels. Dies wiederum fördert das Auftreten komplexerer Blattformen wie Lappen oder Nebenblättern.
Man weiß inzwischen, dass Veränderungen in der Regulation von Entwicklungsgenen auch zu Krankheiten beim Menschen führen können. Wissenschaftler können nun die Varianten solcher Bindungsstellen für Transkriptionsfaktoren identifizieren, die Menschen anfälliger für bestimmte Erkrankungen machen oder – umgekehrt – die sie davor schützen.