Forschungsbericht 2019 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut
Leonardo da Vinci im Kontext
Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut, Florenz, Italien
Das Kunsthistorische Institut in Florenz (KHI) hatte sich in den 1940er-Jahren zu einem Brennpunkt der Leonardo-Forschungen entwickelt, als Ludwig Heinrich Heydenreich, der wegweisende Beiträge zu dem Universalkünstler aus Vinci vorgelegt hatte, zum Direktor berufen wurde. Im vergangenen Jahrzehnt wurde diese wichtige Tradition neu belebt und das KHI erneut zu einem Zentrum der Erforschung und des Austauschs der Leonardo-Experten. Unter der wissenschaftlichen und koordinatorischen Leitung von Alessandro Nova und unter gezielter Einbeziehung renommierter Spezialisten ist seit 2008 eine Serie von fünf internationalen Tagungen organisiert worden, die sich in einer konzentrierten Weise den wichtigsten Einzelaspekten des umfassenden Wirkens Leonardos widmeten, oder die durch innovative Perspektiven zu neuen Einschätzungen gelangten.
Die das Forschungsprojekt abschließende Tagung wurde 2019, dem 500. Todesjahr Leonardos, unter dem Titel De-Coding Leonardo’s Codices veranstaltet. In Kollaboration mit dem Direktor des wissenschaftshistorischen Museo Galileo. Istituto e Museo di Storia della Scienza, Paolo Galluzzi, untersuchten 20 Beiträge den Korpus der handschriftlichen Manuskripte, der den Ausgangspunkt sämtlicher Forschungen bildete, mit Blick auf Fragen der Genese, Technik und der späteren Rezeption. Die Vorträge, deren Publikation für 2021 vorgesehen ist, stellten somit nicht nur Leonardos Arbeitsmethoden – der beispielsweise vom linkshändigen zum rechtshändigen Schreiben wechselte und der Bild- und Textpartien als gleichwertige Informationsträger behandelte – in den Fokus. Vor allem reflektierten die Beiträge kritisch, wie frühere Kompilatoren oder fotomechanische Reproduktionen bis in das 20. Jahrhundert hinein das bisherige Bild von Leonardo da Vinci in der Kunstgeschichte dominierten und maßgeblich bestimmten.
Die Reflexion der Folgen wissenschaftshistorischer Traditionen, Methoden und Moden war auch ein Ausgangspunkt früherer Tagungen des Projekts, die Leonardo da Vinci als einen Forscher analysierten, der sich mit dezidiert künstlerischen Praktiken und Denkweisen naturwissenschaftliche Bereiche erschloss. Den Auftakt am KHI hatte 2008 Leonardo da Vinci’s Anatomical World. Language, Context and „Disegno“ gemacht (publiziert 2011 [1]), eine Tagung, die gemeinsam mit Domenico Laurenza organisiert wurde. Als transgressives Phänomen, das die optischen Studien Leonardos mit den malerischen Fragen der Wahrnehmung und Wiedergabe verbindet, folgte 2010 – in Kollaboration mit Francesca Fiorani – Leonardo da Vinci and Optics (publiziert 2013 [2]). Auf einen ähnlich multiperspektivischen Zugang zielte 2013 Leonardo da Vinci on Nature. Knowledge and Representation (publiziert 2015 [3]). In der mit Fabio Frosini herausgegebenen Publikation der Tagungsbeiträge werden nicht zuletzt naturphilosophische Prinzipien als Leitkategorien des Denkens und künstlerischen Schaffens herausgearbeitet. Auf die Verortung des Künstlers in der Natur und seine Auseinandersetzung mit der Schöpfung folgte im vorletzten Programmpunkt der Reihe 2015 Leonardo in Dialogue. The Artist Amid his Contemporaries (publiziert 2019 [4]), eine mit Francesca Borgo und Rodolfo Maffeis organisierte Tagung. Ziel war es hier, die fast notorisch als Ausnahme-Individuum charakterisierte und behandelte Figur Leonardo da Vincis in ihrer Beziehung zu den Zeitgenossen oder zu grundsätzlicheren Trends seiner Zeit zu untersuchen. Neben prominenten Künstlerkollegen wie Verrocchio oder Raffael, Mäzenatinnen wie Isabella d’Este und frühen Leonardo-Biographen wie Paolo Giovio widmen sich Einzelbeiträge hier auch der Einordnung Leonardos vor dem Hintergrund handwerklicher Arbeiten im späten Quattrocento, der Entwicklung neuartiger Genres oder Techniken der Malerei. Das Ziel war somit erneut eine historische Kontextualisierung des Künstlers Leonardo da Vinci, um erst dadurch in einem zweiten Schritt die individuelle Leistung besser herausstellen oder von anderen Zeitgenossen abgrenzen zu können.
Die geplante Publikation der eingangs erwähnten Projekt-Abschlusstagung De-Coding Leonardo’s Codices wird durch die Untersuchung der Manuskripte und ihres Nachlebens in der Forschung einen weiteren Beitrag leisten, um die mythische Überhöhung des Universalkünstlers zu revidieren und eine neue Grundlage für seine wissenschaftliche Einschätzung bereitzustellen. Das Projekt schließt damit in vielerlei Weise an andere Forschungen am KHI an – sei dies mit Blick auf die kritische Kommentierung der Leonardo-Vita Giorgio Vasaris im Rahmen des Projekts der Edition Vasari, die breiter aufgestellte Revision der modernen Vorstellungen zur „Renaissance“ im Projekt Rinascimento Conteso, oder im Kontext der Forschungen zur Geschichte der Fotografie oder dem Interesse an der Materialität der Objekte, welches die Grundlage mehrerer KHI-Projekte verschiedener Abteilungen bildet. Nicht zuletzt demonstrieren die Leonardo-Forschungen unter der Leitung Alessandro Novas aber auch die Notwendigkeit, sich die vielschichtige Produktion des Ausnahmekünstlers durch die Kombination verschiedener disziplinärer und methodischer Ansätze zu erschließen, und auf diese Weise die positive Synergie natur- und geisteswissenschaftlicher Forschungen vor Augen zu führen, für die der Name Leonardos wie der keines Zweiten steht.