Der Satellit mit Röntgenblick
Am frühen Morgen des 23. Oktober 2011 versank Rosat in den Wellen des Indischen Ozeans. Damit endete eine Erfolgsgeschichte, die in der deutschen Weltraumforschung ihresgleichen sucht. Der Satellit, federführend entwickelt und gebaut von einem Team um Joachim Trümper vom Garchinger Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, hat nicht nur mehr als 150 000 neue kosmische Röntgenquellen gefunden, sondern die Astronomie revolutioniert.
Text: Helmut Hornung
Der Schrotthaufen kommt von Südwesten, fliegt über den Golf von Bengalen und platscht schließlich mit Tempo 450 ins Meer. Zeugen gibt es keine. Hätte der berühmteste deutsche Forschungssatellit nicht ein furioseres Finale verdient gehabt? Wenigstens der Spiegel erbarmt sich und versucht zu retten, was zu retten ist. Unter dem Titel „Exakt auf der Bahn“ berichtet er in seiner Ausgabe vom 30. Januar 2012, dass Rosat „nur um Haaresbreite die chinesische Hauptstadt Peking verfehlte“. Der Satellit „hätte wahrscheinlich einen tiefen Krater in die Stadt gerissen“. Das Blatt sieht für den Katastrophenfall gar die deutsch-chinesischen Beziehungen in Gefahr. Joachim Trümper muss darüber herzhaft schmunzeln: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner Mensch zu Schaden gekommen wäre, lag ungefähr bei eins zu zehn Billionen.“
Ein wenig Wehmut schwingt schon mit, unterhält man sich mit Trümper über Rosat. „Er war unser Baby“, sagt der Emeritus am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik. Mehr als sein halbes Forscherleben hat sich der heute 86-Jährige dem Röntgensatelliten gewidmet. An den Start am 1. Juni 1990 erinnert sich Joachim Trümper ganz genau. Er ist natürlich am US-Weltraumbahnhof Cape Canaveral mit dabei. Ein paar Tage vor dem Lift-off fährt er noch einmal mit dem Fahrstuhl zur Spitze der Trägerrakete Delta II. „Durch ein Fenster habe ich dort den letzten Blick auf Rosat geworfen“, sagt der Astronom.
Während Trümper mit einigen seiner Teammitglieder in den USA weilt, erleben die Daheimgebliebenen den Start von Oberpfaffenhofen aus. Das Kontrollzentrum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) ist das bayerische Pendant zum amerikanischen Houston und in den 1980er- und 1990er-Jahren an bemannten Projekten wie den beiden Spaceshuttle-Missionen D1 und D2 beteiligt. Jetzt sollen die Experten den knapp zweieinhalb Tonnen schweren und einige Hundert Millionen Mark teuren Rosat „fliegen“, seine Funktion überwachen und über die DLR-Antenne in der Lichtenau bei Weilheim ständig Kommandos senden und Daten empfangen.
Freitag, 1. Juni 1990. Mehr als 500 Gäste haben sich am Abend im Oberpfaffenhofener German Space Operations Center eingefunden. Auf einer großen Leinwand läuft die Live-Übertragung aus Cape Canaveral. Fünf Minuten vor dem geplanten Abheben taucht plötzlich ein Zivilflugzeug über dem Gelände auf, der Countdown muss unterbrochen werden. „Das war der übliche Scherz der Startmannschaft, um die Spannung zu erhöhen“, erinnert sich Trümper. Nach zehn Minuten geht es weiter, in Oberpfaffenhofen verteilen Hostessen Sektgläser, die letzten Sekunden zählen die Gäste laut mit. Und während sich die Rakete, 8000 Kilometer entfernt, in einen makellos blauen Himmel schiebt, rufen alle „Go, go, go!“. Unterdessen intoniert die Gilchinger Blaskapelle den bayerischen Defiliermarsch.
Zwischen Folklore in Oberbayern und Absturz im Indischen Ozean liegen nicht nur 21 Jahre und fünf Monate, sondern auch eine ungewöhnlich reiche Ernte an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Röntgenastronomie ist eine recht junge Disziplin, weil die irdische Atmosphäre nur einen Bruchteil der Strahlung aus dem All passieren lässt. Dazu gehören das sichtbare Licht und die Radiostrahlung. Aber um das Universum mit Röntgenaugen zu durchleuchten, muss man die schützende Lufthülle der Erde hinter sich lassen. So entdeckten amerikanische Forscher im Jahr 1948 die Röntgenstrahlung der Sonne mithilfe einer erbeuteten V2-Rakete. Heute werden die Observatorien auf Satelliten stationiert.
Sichtbares Licht lässt sich problemlos von Linsen oder Spiegeln bündeln, Röntgenstrahlung nicht. Aufgrund ihrer hohen Energie haben die Photonen eine ähnlich „durchschlagende“ Wirkung wie Gewehrkugeln. Daher hat der Physiker Hans Wolter Anfang der 1950er-Jahre das Prinzip eines speziellen Teleskops entwickelt, in dem parabolisch und hyperbolisch geformte Spiegelsegmente das unter flachem Winkel einfallende Röntgenlicht bündeln. Ein Wolter-Teleskop sollte auch bei Rosat zum Einsatz kommen.
Doch zunächst gilt es, die eine oder andere Hürde zu überwinden. Schon 1972 beschließt Joachim Trümper, mit der Entwicklung eines solchen Instruments zu beginnen. Drei Jahre später beteiligt sich seine Gruppe an einer bundesweiten Ausschreibung für wissenschaftliche Großprojekte. Aus einer Vielzahl von Vorschlägen werden drei angenommen. Rosat ist darunter.
Als im Jahr 1980 das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie eine „substanzielle internationale Beteiligung“ verlangt, geht Trümper auf die Suche nach Partnern. „Um zu vermeiden, dass das Projekt jahrelang durch die Mühlen der Bürokratie gedreht wird, baten wir die Amerikaner, den Start zu übernehmen. Und den Engländern boten wir an, ein eigenes, kleineres Teleskop für den extremen Ultraviolett-Bereich beizusteuern und zu betreiben.“ Das Konzept ging auf – zum Wohle des gesamten Projekts.
Im Jahr 1983 machen sich die Firmen Dornier, MBB und Carl Zeiss nach jahrelangen Studien an die Arbeit. Die Ingenieure entwickeln Röntgenkameras und bauen eine 130 Meter lange Anlage namens Panter, um das Teleskop zu testen. Dieses hat eine Öffnung von 83 Zentimetern und wiegt etwa eine Tonne. Es besteht aus vier ineinandergeschachtelten Spiegeln aus der wärmeunempfindlichen Glaskeramik Zerodur. Und jeder dieser goldbeschichteten Spiegel besitzt eine einzigartige Oberflächengenauigkeit: Übertragen auf die Fläche des Bodensees, wären Unebenheiten etwa so groß wie eine nur ein Hundertstel Millimeter hohe Welle. Damit schaffte es das Teleskop für die glatteste Oberfläche der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde.
Dann kommt der 28. Januar 1986: Die Raumfähre Challenger zerbirst 73 Sekunden nach dem Abheben in einem Feuerball. Alle sieben Astronauten sterben, das bemannte US-Raumfahrtprogramm wird für zweieinhalb Jahre unterbrochen. Rosat hätte eigentlich 1987 in die Erdumlaufbahn gebracht werden sollen – auf einem Spaceshuttle. Daran ist nicht mehr zu denken. „Jetzt mussten wir den Satelliten komplett umrüsten, für den Start mit einer Rakete“, sagt Joachim Trümper.
Auch diese Herausforderung wird gemeistert. Und am Ende brechen nicht nur Technik und Konstruktion den einen oder anderen Rekord. Schon das erste Missionsziel, die Kartografierung des gesamten Röntgenhimmels mit einem abbildenden Teleskop, übertrifft sämtliche Erwartungen. Einer der Vorgänger war der im Dezember 1970 gestartete Uhuru. Mit seinen einfachen Instrumenten – kollimierten Proportionalzählern – entdeckte er 300 neue Objekte. Ein Jahrzehnt später erhöhte das Einstein-Observatorium mit einem Wolter-Teleskop an Bord deren Zahl auf 5000. Und dann trat Rosat auf den Plan: Allein im Laufe des ersten halben Jahres fand der Späher nicht weniger als 100 000 neue Röntgenquellen.
Anschließend beobachtete Rosat ausgewählte Quellen: Objekte des Sonnensystems, Sterne und Gas in der Milchstraße, ferne Galaxien. Ein Jahr sollte diese zweite Phase dauern – acht Jahre wurden es. Die Max-Planck-Forscher konnten immer wieder mit Überraschungen aufwarten. So etwa lieferte ihr Satellit das erste Röntgenbild des Mondes und entdeckte die Emission des Kometen Hyakutake – Letzteres zunächst ein Rätsel, galten die Schweifsterne doch als schmutzige Schneebälle; für das Aussenden von Röntgenlicht braucht es jedoch entweder Temperaturen von Millionen Grad oder sehr hochenergetische Elektronen. Die Lösung: Kometen erzeugen die Strahlung nicht selbst, sondern werden durch Wechselwirkung mit dem Sonnenwind – einem Strom aus elektrisch geladenen Teilchen – zum Leuchten angeregt.
Im Reich der Sonnen lieferte Rosat die erste vollständige Übersicht, von den winzigen Braunen Zwergen bis hin zu den Roten Überriesen, und nahm kompakte Sternleichen wie Weiße Zwerge, Neutronensterne, Schwarze Löcher und Supernova-Überreste ins Visier. Untersuchungen an Galaxienhaufen brachten neue Erkenntnisse über die Rolle der Dunklen Materie in der kosmischen Entwicklung. Schließlich bewies Rosat, dass aktive Galaxienkerne und Quasare an den Grenzen von Raum und Zeit mindestens 80 Prozent zur Hintergrundstrahlung im Röntgenbereich beitragen, und löste damit ein 30 Jahre altes Rätsel.
Während der Kundschafter fleißig Daten sammelt, fallen 1993 seine Kreisel zur Lageregelung aus. Die Forscher, allen voran der spätere Max-Planck-Direktor Günther Hasinger, und die Ingenieure bei MBB stricken kurzerhand das Navigationssystem um und verpassen Rosat ein neues – und gleichzeitig uraltes: Es orientiert sich mit Kompassen am Erdmagnetfeld. Der Satellit arbeitet jetzt wieder einwandfrei.
Am 25. April 1998 allerdings geht der primäre Sternsensor des Röntgenteleskops kaputt. Rosat ist endgültig in die Jahre gekommen. Trotz der zunehmenden Behinderungen lässt sich das Observatorium noch bis zum 17. Dezember 1998 betreiben. Am 12. Februar 1999 bricht der Kontakt ab. Seine Mission hat Rosat übererfüllt. 4000 Wissenschaftler aus 24 Ländern nutzen seine Daten. Der Satellit beschert referierten Fachzeitschriften mehr als 4000 Artikel – und der Max-Planck-Gesellschaft die mit 36 Seiten längste Pressemeldung ihrer Geschichte.