Eine Billion Mal länger, als das Universum alt ist
Die Halbwertszeit von Xenon 124 ergibt sich aus der Beobachtung einer extrem seltenen Elementumwandlung
Manche Atomkerne, darunter das Xenonisotop mit der Masse 124, können gleichzeitig zwei Elektronen aus ihrer Elektronenhülle einfangen. In diesem extrem seltenen Prozess wandeln sich zwei der insgesamt 54 positiv geladenen Protonen im Xenon-124-Kern in ungeladene Neutronen um, sodass aus Xenon Tellur wird. Den größten Teil der freiwerdenden Energie tragen zwei dabei entstehende Neutrinos davon. Da die eingefangenen Elektronen aus der untersten Elektronenschale stammen, fallen in der Folge Elektronen aus höheren Energieniveaus nach unten, wobei Röntgenlicht beziehungsweise Elektronen aus den höchsten Niveaus ausgesandt werden.
Mit dem XENON1T-Detektor gelang es nun einem internationalen Team von Physikerinnen und Physikern, diesen Prozess nachzuweisen und seine Halbwertszeit zu messen. Sie beträgt unvorstellbare 1,8×1022 Jahre – das ist rund eine Billion Mal länger als das Alter des Universums! Und es ist die längste jemals direkt gemessene Halbwertszeit.
Ein Gefäß mit 3,2 Tonnen ultrareinem, flüssigem Xenon
Aber wie konnten die Mitglieder der XENON-Kollaboration eine derart exorbitant lange Zeit messen? Halbwertszeit bedeutet, dass sich innerhalb dieser Zeit die Hälfte der vorhandenen Xenon-124-Atome in Tellur-124-Atome umwandelt. Wann das ein einzelnes Atom tut, ist rein zufällig und kann jederzeit geschehen. Das Rezept lautet also: Man nehme sehr viel Xenon, benutze einen hochempfindlichen Detektor und schütze diesen so gut wie nur irgend möglich vor Allem, was das Signal überdecken kann. Die übrigbleibenden Störeinflüsse muss man zudem genau kennen und bei der Datenanalyse berücksichtigen.
Gut abgeschirmt gegen natürliche radioaktive Strahlung und gegen kosmische Strahlung hängt der eigentlich zur Suche nach Dunkler Materie gebaute Detektor XENON1T in einem großen Tank mit hochreinem Wasser im Gran-Sasso-Untergrundlabor in Italien. Alle Baumaterialien sind weitestgehend frei von radioaktiven Verunreinigungen. Der Detektor besteht aus einem knapp einen Meter hohen und breiten zylindrischen Gefäß, das mit 3,2 Tonnen ultrareinem, flüssigem Xenon gefüllt ist. Oben und unten registrieren insgesamt 248 empfindliche Lichtsensoren die Signale. Ereignisse im Xenon erzeugen zum einen ein direktes Lichtsignal und zum anderen Elektronen, die ein elektrisches Feld nach oben in gasförmiges Xenon zieht, wo sie ein verzögertes zweites Lichtsignal verursachen.
Der interessante Energiebereich blieb zu nächst verborgen
Aus der Zeitdifferenz zwischen den beiden Signalen sowie der Verteilung des Lichts auf die einzelnen Lichtsensoren lässt sich die Position bestimmen, an der das Ereignis stattgefunden hat. Aus der Stärke der Signale ermitteln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die beim Zerfall freigewordene Energie. Ereignisse nahe am Rand des Xenon-Gefäßes werden nicht berücksichtigt, da sie von Resten an radioaktiven Verunreinigungen herrühren können.
Über ein ganzes Jahr lang speicherte das Datenerfassungssystem von XENON1T alle Signale. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten jedoch die Daten im interessanten Energiebereich zunächst nicht sehen, so dass ihre Arbeit unvoreingenommen blieb. Am Ende einer gründlichen Analyse unter Zuhilfenahme zahlreicher Kalibrationsmessungen konnten die Mitglieder der XENON-Kollaboration schließlich alle Störsignale genau beschreiben. Erst danach deckten sie den spannenden Energiebereich auf und es war klar: Er enthält ein Signal, das nur vom doppelten Elektroneneinfang des Xenon-124 stammen kann. Daraus errechneten die Forscherinnen und Forscher die enorme Halbwertszeit von 1,8×1022 Jahren.
Auf der Suche nach doppeltem Elektroneneinfang ohne Neutrinoemission
Diese erfolgreiche Messung demonstriert die hervorragende Eignung von XENON1T und zukünftiger ähnlicher Dunkle-Materie-Detektoren für die Suche nach anderen äußerst seltenen Prozessen in der Neutrinophysik. So eröffnet sich auch die Möglichkeit, nach dem hypothetischen und noch wesentlich selteneren doppelten Elektroneneinfang ohne Emission von Neutrinos zu suchen. Dessen Entdeckung würde beweisen, dass Neutrinos mit ihren Antiteilchen identisch sind und es ermöglichen, ihre absolute Masse zu bestimmen. Diese Eigenschaften können auch eines der fundamentalen Rätsel der Kosmologie, die sogenannte Baryon-Asymmetrie des Universums erklären: die beobachtete praktisch vollständige Abwesenheit von Antimaterie im Kosmos.
Der Detektor XENON1T ist ein gemeinschaftliches Projekt, an dem rund 160 Forschende aus Europa, den USA und dem nahem Osten beteiligt sind. Aus Deutschland leisten das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg sowie die Universitäten Münster, Freiburg und Mainz zentrale Beiträge. Bei der Materialauswahl wie auch bei der Überprüfung der Reinheit des Xenons kommen vom MPIK entwickelte hochempfindliche Nachweismethoden für geringste Spuren von Radioaktivität zum Einsatz. XENON1T hat von 2016 bis Dezember 2018 Daten genommen und wurde dann abgeschaltet. Aktuell läuft der Umbau des Experiments für die neue Phase XENONnT, bei der die aktive Detektormasse verdreifacht und die radioaktiven Verunreinigungen weiter reduziert werden, was den Detektor um eine Größenordnung empfindlicher machen wird.