Kosmisches Licht auf krummen Touren
Albert Einstein hatte sie vorhergesagt, moderne Großteleskope haben sie entdeckt – und Klaus Dolag simuliert sie am Computer: Gravitationslinsen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Garchinger Max-Planck-Institut für Astrophysik und an der Universitäts-Sternwarte München nutzt dieses physikalische Phänomen, um Galaxienhaufen zu wiegen oder der ominösen Dunklen Materie nachzuspüren.
Text: Helmut Hornung
Der Himmel über Principe war bedeckt, die Stimmung im Lager auf der Kokosplantage am Nullpunkt. Wochenlang waren die Männer von England zur Vulkaninsel im Golf von Guinea unterwegs gewesen, mit dem Ziel, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Man wollte nichts Geringeres, als eine kühne Theorie beweisen, die ein deutscher Physiker namens Albert Einstein kürzlich veröffentlicht hatte. Danach sollte die Schwerkraft einer Masse den Raum verbiegen, ähnlich einer Bleikugel, die ein Gummituch eindellt. Lässt man nun eine Murmel auf die Kugel zulaufen, wird sie vom ursprünglich geraden Weg abkommen und – je nach Anfangsgeschwindigkeit – eine mehr oder weniger gekrümmte Bahn zurücklegen. Heute, am 29. Mai 1919, ließ sich diese Voraussage von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie auf der Insel Principe überprüfen. Und dann die Misere mit dem Wetter!
Die von dem Astronomen Arthur Stanley Eddington geleitete Expedition hatte allerdings weder Tuch noch Kugel dabei, sondern Teleskop und Kamera. Damit wollten die Forscher eine totale Sonnenfinsternis aufnehmen. Der Test war einfach: Wenn eine Masse den Raum verbiegt, müsste auch das Tagesgestirn das an ihm vorüberziehende Licht der Sterne aus der geraden Bahn werfen. Das heißt: Die in unmittelbarer Nachbarschaft der schwarzen Sonne befindlichen Lichtpünktchen sollten im Vergleich zu ihrer wahren Position am Firmament um einen winzigen Betrag verschoben sein. Dazu hatte Eddington ein halbes Jahr zuvor das Sternfeld ohne störendes Tagesgestirn mit denselben Instrumenten aufgenommen, die er jetzt ungeduldig auf die wolkenbedeckte, langsam dunkler werdende Sonne richtete.
Virtuelle Teleskope spähen ins Weltall
Und der Astronom wurde für seine Ausdauer belohnt. Während der Totalität rissen die Wolken für einige Augenblicke auf, Eddington gelangen zwei Aufnahmen. „Lights All Askew In The Heavens” titelte am 10. November 1919 die New York Times. Die „verschobenen Lichter am Himmel” bewiesen, dass die Allgemeine Relativitätstheorie stimmte – und begründeten den Mythos Albert Einstein.
Neuere Auswertungen der Eddington’ schen Ergebnisse zeigen, dass die damals gemessenen Werte zwar den Voraussagen entsprachen, aber offenbar auf einen zufällig genauso großen Instrumentenfehler zurückgehen. Bis heute wurde der Gravitationseffekt jedoch mehrfach gemessen und perfekt bestätigt, Zweifel besteht daran keiner mehr. So muss sich Klaus Dolag auch gar nicht mit irgendwelchen Beweisen beschäftigen. Er arbeitet schlicht damit – und wendet das physikalische Prinzip an, um Galaxienhaufen zu wiegen oder der im Universum verborgenen Materie auf die Schliche zu kommen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astrophysik und an der Universitäts-Sternwarte München ist darüber hinaus nicht auf wolkenlosen Himmel angewiesen: Klaus Dolag forscht mit Computersimulationen und erschafft dabei virtuelle Teleskope.
Um das zu verstehen, tauchen wir noch einmal in die Geschichte ein. Aufgrund der Tatsache, dass die Sonne die Bahn des Sternlichts verbiegt, hatte Albert Einstein 1936 in der Zeitschrift Science spekuliert, dass ein Stern das Licht eines dahinterliegenden Objekts – das sich im leeren Raum geradlinig ausbreitet – ähnlich einer Glaslinse ablenken könnte. Auf diese Weise sollte das Licht dieses Objekts verstärkt werden wie mit einer Lupe, durch die man Sonnenstrahlen fallen lässt; außerdem könnten Mehrfachbilder ein und desselben Objekts entstehen.
Einstein selbst glaubte nicht an einen Nachweis
Im Jahr 1937 brachte der Schweizer Astronom Fritz Zwicky die Möglichkeit einer als Linse wirkenden Galaxie ins Spiel, die verzerrte Bilder hinter ihr und damit weiter entfernt liegender Milchstraßensysteme liefert. Dabei werden je nach räumlicher Orientierung von Beobachter, Linse und Objekt unterschiedliche Bilder erzeugt. Befinden sich alle drei exakt auf einer Linie (der optischen Achse), so entsteht ein Ring. Liegen sie abseits der optischen Achse, erscheinen die Abbildungen der Hintergrundquellen als mehr oder weniger stark gekrümmte Bögen. Als Linsen wirken nicht nur einzelne Objekte wie Galaxien, sondern häufig Galaxienhaufen – Ansammlungen gigantischer Materiekonzentrationen, die man als viele, vergleichsweise eng zusammenstehende Milchstraßensysteme beobachtet.
Was den praktischen Nachweis des Gravitationslinseneffekts betrifft, blieb Albert Einstein skeptisch. Der Effekt – insbesondere der nach ihm benannte Ring – sei zu klein: „Natürlich gibt es keine Hoffnung, das Phänomen direkt zu beobachten.“ Im Jahr 1979 entdeckten Forscher den ersten Quasar, dessen Licht vom Gravitationsfeld einer auf der Sichtlinie zur Erde liegenden Galaxie in mehrere Bilder aufgespalten wird. Quasare sind die aktiven Kerne junger Galaxien, die durch massereiche Schwarze Löcher zu einem sehr hohen Energieausstoß getrieben werden.
Art und Form der gelinsten Bilder folgen den gravitationsoptischen Gesetzen. So lassen sich, ähnlich wie in der klassischen Optik, aus den kosmischen Bildern wichtige Rückschlüsse ziehen, etwa auf das Linsenmaterial oder die Beschaffenheit des Mediums, sprich auf die Massenverteilung innerhalb der Galaxien oder die Struktur des Raums. Galaxienhaufen interessieren Forscher wie Klaus Dolag besonders: „Es sind die größten, durch die Schwerkraft aneinander gebundenen Systeme im Universum. Daher bewirken sie besonders deutliche Gravitationslinseneffekte.“ Das erklärt auch ihren vielfältigen Nutzen für die Wissenschaft. Worin besteht dieser?
Betrachten wir als Beispiel den rund zwei Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen Abell 2218 im Sternbild Drache. Auf den Aufnahmen großer Fernrohre zeugen Dutzende kleiner Lichtbögen in unterschiedlichen Farben und Formen von Galaxien, die mehr als sechs Milliarden Lichtjahre hinter Abell 2218 liegen und ohne seine Wirkung gar nicht zu sehen wären. Kurz: Gravitationslinsen fungieren als natürliche Teleskope. So führte die gewaltige Lupenwirkung des Haufens Abell 1689 zur Entdeckung einer der fernsten bisher bekannten Galaxien. Wir sehen sie heute im Licht, das sie 700 Millionen Jahre nach dem Urknall ausgesandt hat.
Zeitmaschinen zeigen die Entwicklung der Galaxien
Weil die Lichtgeschwindigkeit endlich ist, bedeutet die Beobachtung ferner Objekte gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit. Seit seiner Geburt vor 13,7 Milliarden Jahren hat sich das Universum stark verändert. Die Galaxien etwa haben seither eine bestimmte Entwicklung durchgemacht. Indem Fernrohre (und Gravitationslinsen) wie Zeitmaschinen arbeiten, bieten sie den Astronomen hervorragende Einblicke in die Evolution des Weltalls.
Im Fall von Abell 2218 ballen sich massereiche elliptische Galaxien im Zentrum; auf Fotos zeigt sich etwas außerhalb der Mitte ein weiteres kleines Haufenzentrum. Offenbar verschmelzen zwei Galaxienhaufen miteinander. Allein diese Tatsache ist für die Astronomen ein wichtiges Indiz, dass solche Fusionen das Aussehen des Weltalls prägen. Offenbar scheinen immer dann besonders viele leuchtende Bögen auf, wenn die Gravitationslinse aus zwei verschmelzenden Haufen besteht. Damit gewinnen die Forscher Einblick in die Strukturbildung im Universum.
Dieser Aspekt hat große Bedeutung: „Die Kosmologie muss unter anderem erklären, warum aus der anfänglich recht gleichmäßigen Materieverteilung nach dem Urknall solche Dinge wie Galaxien und ausgedehnte Galaxienhaufen entstanden sind, in denen sich Sterne und Planeten zusammengeballt haben“, sagt Klaus Dolag. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Dunkle Materie, aus der rund 23 Prozent des Universums bestehen. Die Natur dieses geheimnisvollen Stoffs liegt buchstäblich im Dunkeln.
Die Inflation treibt das Universum auseinander
Wie erwähnt, bergen die Bilder auch Informationen über den als Linse wirkenden Haufen. So etwa stellt sich schnell heraus, dass die sichtbare Masse, die in Galaxien steckt, bei Weitem nicht genügt, um einen solchen gigantischen Haufen wie Abell 2218 mit vielen hundert Mitgliedern zusammenzuhalten. Und: Die sichtbare Materie reicht keineswegs aus, um die bogenförmigen Mehrfachbilder der dahinterliegenden Objekte zu erzeugen. Denn die Flächendichte einer Gravitationslinse bestimmt deren optische Eigenschaften.
Umgekehrt können die Astronomen aus diesen Charakteristika auf die Verteilung der Massen innerhalb einer Gravitationslinse schließen und die unsichtbaren sowie sichtbaren Komponenten voneinander unterscheiden. „Gravitationslinsen stellen die einzige direkte Methode dar, um den Anteil der Dunklen Materie zu bestimmen“, sagt Dolag.
Zu guter Letzt sind Gravitationslinsen präzise Werkzeuge, um die Geometrie des Kosmos zu entschlüsseln. Im Standardmodell kommt das All vor 13,7 Milliarden Jahren mit einem „Knall“ auf die Welt. Wissenschaftler sprechen lieber von einer Singularität, die sich mit physikalischen Gesetzen gar nicht beschreiben lässt. Bei einem Weltalter von 10-35 Sekunden blähte sich dem Modell zufolge der Kosmos um 50 Größenordnungen auf, vom Durchmesser eines Protons bis zu dem einer Orange. Der Inflation genannte Augenblick vergrößerte das Blubbern in der Quantensuppe auf makroskopische Dimensionen. Diese Strukturen zeigen sich auf den Babybildern des Weltalls als farbcodierte Fleckchen mit minimal unterschiedlichen Temperaturen im Licht von Mikrowellen; sie wurden 380000 Jahre nach dem Urknall abgestrahlt und werden heute von Satelliten wie WMAP oder Planck aufgefangen.
Seit der Inflation expandiert das Universum, aber seit gut fünf Milliarden Jahren deutlich schneller als erwartet. Diese geheimnisvolle treibende Kraft wirkt im Verborgenen und macht rund 73 Prozent der Energiedichte des Alls aus. Eine erschreckende Vorstellung: 73 Prozent Dunkle Energie, 23 Prozent Dunkle Materie – der Kosmos besteht überwiegend aus unbekanntem Stoff. Lediglich vier Prozent stecken in der baryonischen Materie, aufgebaut aus den uns vertrauten Protonen, Neutronen oder Elektronen; nur diesen winzigen Anteil sehen wir mit bloßem Auge oder dem Teleskop als Planeten und Sterne, Gasnebel und Galaxien.
Im Rechner entsteht ein Netz aus filigranen Fasern
Die Forscher beschreiben das Universum als Ganzes durch einen Satz von Parametern, die Energie- und Materiegehalt, Dichte und Expansionsrate charakterisieren. Ein wichtiger Wert ist zudem die kosmologische Konstante, eine zeitlich unveränderliche Form der Dunklen Energie. In der Abteilung von Direktor Simon White lässt eine Gruppe am Max-Planck-Institut für Astrophysik aus den genannten Zutaten das Universum im Computer entstehen (MaxPlanckForschung 3/2006, Seite 46 ff.). Dabei starten die Kosmologen einige 100000 Jahre nach dem Urknall und beobachten, wie der Großrechner im Lauf der Zeit ein Netz aus filigranen Fasern und perlenartigen Verdickungen spinnt, den Saatkörnern der Galaxien.
Auch Klaus Dolag nutzt Simulationen. Das heißt: Er baut Gravitationslinsen mit Computerprogrammen. Dazu berücksichtigt er nicht nur Massen und Dichtefelder, sondern auch Dunkle Materie und baryonisches Gas. Aus diesen Zutaten stellt seine Software die Entwicklung von großräumigen Strukturen und die Evolution von Galaxien nach. So ähnlich gehen auch Dolags Kollegen vor, etwa in ihrer berühmten Millennium-Simulation. Darin brachten sie in einen virtuellen Würfel des Weltalls von 2,1 Milliarden Lichtjahren Kantenlänge nicht weniger als zehn Trillionen Sonnenmassen Dunkle Materie ein, verteilt auf zehn Milliarden virtuelle Materieeinheiten.
„Unsere Simulationen arbeiten mit noch mehr Physik“, sagt Klaus Dolag. „Weil wir eben auch die baryonische Materie berücksichtigen, können wir das Aussehen von Galaxien und Galaxienhaufen in verschiedenen Wellenlängenbereichen, etwa im Röntgenlicht, simulieren.“ Der künstliche Kosmos ist im Wesentlichen aus zwei Schichten aufgebaut: einige hundert bis tausend Vordergrundgalaxien sowie zig Hintergrundgalaxien, deren Verteilung einem Modell folgt, das der Natur entspricht. Indem der Computer die beiden Schichten übereinanderlegt, ergibt sich ein Abbild eines virtuellen Himmelsausschnitts.
Die Linsenstruktur beeinflusst die Bilder
Weil die Vordergrundgalaxien als Gravitationslinse wirken, beeinflussen sie die Bilder der Hintergrundgalaxien; deren Form hängt von der Struktur der Linse ab. Auf diese Weise gewinnt Dolag eine virtuelle Gravitationslinse, mit der sich spielen lässt. So kann er studieren, wie sich die Abbildungen ändern, wenn beispielsweise mehr oder weniger Masse angenommen oder die Abstände der Galaxien verändert werden.
Klaus Dolag zeigt Bilder seiner Simulationen, die so täuschend echt wirken, dass sie der Laie von Aufnahmen großer Fernrohre gar nicht unterscheiden kann. In der Tat fließen in die Programme auch noch Instrumentendaten ein: Durchmesser der Teleskopspiegel, Spektralbereiche und Filtereigenschaften sowie Belichtungszeiten der Aufnahmen.
Dieser Aufwand ist kein Selbstzweck. Eine Gruppe, der auch Klaus Dolag angehörte, hat Beobachtungen eines Galaxienfelds simuliert, wie sie eines Tages das von der europäischen Raumfahrtbehörde ESA geplante Weltraumteleskop Euclid liefern könnte. Den Wissenschaftlern ging es unter anderem um das Vermessen von Bögen, um deren Länge, Dicke und Krümmung. Diese virtuellen Gravitationslinseneffekte sollten wertvolle Aufschlüsse über die im Weltall tatsächlich beobachteten Effekte geben.
„Wir fanden interessante Zusammenhänge“, sagt Dolag. „So ist das Längen-zu-Breiten-Verhältnis der Bögen ein guter Indikator, der Rückschlüsse auf die Verteilung der Massen in einer Gravitationslinse erlaubt.“ Die Simulationen zeigten außerdem, dass Beobachtungseffekte das Vermessen der Bögen beeinflussen können. Dolag: „Das müssen wir bei der Interpretation künftiger Beobachtungen berücksichtigen.“
Es geht also darum, Modelle an der Wirklichkeit zu testen. Oder unterschiedliche Messmethoden miteinander zu vergleichen. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz für das Fachjournal Astronomy & Astrophysics beschäftigen sich Klaus Dolag und seine Kollegen mit der Massenbestimmung von Galaxienhaufen. Dazu gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Gravitationslinsen und Röntgenbeobachtungen. Letztere basieren auf der Tatsache, dass zwischen den Milchstraßensystemen in einem Haufen heißes Gas existiert, das Röntgenstrahlen aussendet. Aus den Beobachtungen kann man ein Massenprofil des Galaxienhaufens erstellen – vorausgesetzt, die Verteilung des intergalaktischen Gases lässt sich durch einfache Modelle beschreiben und es befindet sich im hydrostatischen Gleichgewicht, wird also durch die Gravitation in Form gehalten.
Im Randbereich der Haufen nehmen die Fehler zu
„In der Praxis gibt es Probleme, denn die Ergebnisse der beiden Methoden stimmen häufig nicht überein“, sagt Dolag. Also erschuf sein Team drei Galaxienhaufen und simulierte zunächst Beobachtungen mit einem künstlichen Röntgenteleskop und dann Abbildungen mit einer Gravitationslinse. Dabei traten im Zentrum des Haufens starke Linseneffekte auf, die eine relativ genaue Massenbestimmung erlaubten. Allerdings führte die Extrapolation der Messungen in den Randbereichen des Haufens, wo sich schwache Linseneffekte zeigten, zu vergleichsweise großen Fehlern.
Außerdem funktionierten die Messungen anhand schwacher Linseneffekte am besten, wenn die Massen in den linsenden Galaxienhaufen gleichmäßig verteilt waren; je mehr „Schlieren“ es in den Linsen gab, desto größer wurden die Fehler. Und: Die wahre Struktur der Galaxienhaufen im Raum, das heißt, ihre Gestalt in allen drei Dimensionen, beeinflusste die Ergebnisse ebenfalls; so etwa wird die Masse einer Linse generell überschätzt, deren optische Achse direkt zum Beobachter weist. „Anhand solcher Simulationen testen wir, wie man die Modelle zur Beschreibung der Materieverteilung in Gravitationslinsen verbessern muss, um der Realität möglichst nahe zu kommen“, sagt Klaus Dolag.
Aber auch in den Röntgenbeobachtungen fanden die Forscher dank ihrer Simulationen einige Fehlerquellen. Befand sich etwa das Gas zwischen den Galaxien nicht exakt im bereits erwähnten hydrostatischen Gleichgewicht, so wichen die Resultate um bis zu 20 Prozent von der Realität ab.
„Zwar ist ein Vergleich der beiden Methoden im Einzelfall ziemlich kompliziert. Trotzdem wird uns die Beobachtung von vielen Haufen wertvolle Hinweise auf die Physik des Gases zwischen den Galaxien geben. Nicht zuletzt sollten wir die Röntgenmessungen anhand der Resultate aus Gravitationslinseneffekten kalibrieren können“, fasst Klaus Dolag die Ergebnisse der Arbeit zusammen.
Kosmischer Zoom auf weit entfernte Objekte
Je genauer die Astronomen mit ihren Teleskopen das Universum durchmustern, desto mehr Gravitationslinsen finden sie. Spezielle Suchprogramme wie der Cosmic Evolution Survey (COSMOS) oder der Sloan Lens ACS Survey (SLACS) bescheren den Wissenschaftlern Dutzende neuer Objekte. Dabei zeigen sich auch Exoten wie jene drei verschiedenfarbige Bögen, die sich um eine Galaxie gruppieren; möglicherweise wirken in diesem System zwei Linsen zusammen und zoomen das Bild einer immens weit entfernten Galaxie heran. Damit könnten die Astronomen entsprechend weit in die Vergangenheit zurückschauen (siehe Kasten auf Seite 60).
Parallel zur Verbesserung der Nachweismethoden werden Wissenschaftler wie Klaus Dolag an ihren Simulationen feilen. Je exakter sie darin den Kosmos im Computer nachbauen, desto genauer werden die Aussagen über die Evolution der Galaxien und die Entwicklung des Universums als Ganzes. Schon jetzt zeigt die Physik der Gravitationslinsen erste Ansätze, um unterschiedliche Modelle auf den Prüfstand zu bringen und kosmologische Parameter zu testen. Auch wenn die Forscher nicht wie im Jahr 1929 in exotische Gegenden ans Ende der Welt reisen müssen, um große Entdeckungen zu machen, ist die Erkundung des Alls doch ein Abenteuer – selbst wenn es dazu nur die passenden Algorithmen und schnelle Rechner braucht.
Glossar
Kosmologische Konstante
Eine von Albert Einstein (1879 bis 1955) in seine Feldgleichungen der Gravitation eingeführte positive Konstante, welche die Kontraktion des Universums aufgrund der Massenanziehung verhindern sollte. Im Jahr 1998 erlebte (Lambda) eine Renaissance, nachdem man die beschleunigte Expansion des Alls entdeckt hatte. Die Ursache von ist jedoch ungeklärt.
Millennium-Simulation
Mithilfe von Supercomputern untersuchen Forscher die Frage, wie sich aus dem direkt nach dem Urknall strukturlosen Universum die heutigen Galaxien und Sterne bilden konnten. Bei entsprechenden Zutaten wie Dunkler Materie zeigt die Simulation tatsächlich die Entstehung großer Unregelmäßigkeiten aus kleinen eingebrachten Manipulationen. Dem Projekt unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Astrophysik gehören Kosmologen aus Deutschland, Großbritannien, Kanada, Japan und den USA an.
Planck
Die im Mai 2009 gemeinsam mit dem Infrarot-Observatorium Herschel gestartete europäische Sonde soll den kosmischen Mikrowellen-Hintergrund unter die Lupe nehmen, jedoch mit wesentlich höherer Genauigkeit als WMAP. Die erste vollständige Aufnahme des Himmels wurde im Sommer 2010 veröffentlicht.
WMAP
Der US-amerikanische Satellit Wilkinson Microwave Anisotropy Probe wurde im Jahr 2001 gestartet und funkte bis vor wenigen Monaten Daten zur Erde. Ziel der Mission war die Untersuchung der kosmischen Hintergrundstrahlung, insbesondere von Unregelmäßigkeiten, die von großräumigen kosmischen Strukturen stammen. Die berühmte Karte von WMAP zeigt das Universum so, wie es 380000 Jahre nach seiner Geburt ausgesehen hat.