Den Ursachen von Multipler Sklerose auf der Spur

Drei neue Erkenntnisse tragen zum besseren Verständnis der Krankheit bei

8. Juni 2009

Allein in Deutschland sind über 100 000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Trotz intensiver Forschung ist jedoch nach wie vor unklar, welche Faktoren die Krankheit auslösen oder den Krankheitsverlauf beeinflussen. Nun sind Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried und einem internationalen Forscherteam drei bedeutende Einblicke gelungen: B-Zellen spielen offenbar eine unerwartete Rolle bei der spontanen Entwicklung der Krankheit. Zudem werden besonders aggressive T-Zellen anscheinend von verschiedenen Proteinen aktiviert. Darüber hinaus hilft ein neues Tiermodell dabei, die Entstehung der bei uns häufigsten Form der Krankheit zu verstehen. (Nature Medicine, 31. Mai 2009 & Journal of Experimental Medicine, 01. Juni 2009)

Die Multiple Sklerose (MS) stellt Patienten wie auch Mediziner vor große Schwierigkeiten: Multiple Sklerose ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems in unseren Breiten und beginnt oft in relativ jungen Jahren. Ihr Verlauf führt bei manchen Patienten zu schweren Behinderungen. Hinzu kommt, dass trotz der jahrzehntelangen Erforschung der MS die Ursachen und Abläufe immer noch weitgehend unklar sind.

Vieles spricht dafür, dass MS durch eine Autoimmunreaktion ausgelöst wird: Immunzellen, die den Körper eigentlich vor Gefahren wie Viren, Bakterien oder Tumoren schützen sollen, attackieren dabei körpereigenes Hirngewebe. Zwar können neue Therapien die schädliche Immunreaktion mittlerweile pauschal dämpfen und so das Fortschreiten der Erkrankung verzögern. Je wirksamer eine Therapie jedoch ist, desto schwerer sind auch ihre Nebenwirkungen. Es ist daher dringend notwendig, neue Behandlungsformen zu entwickeln, die gezielt zwischen krankmachenden und zu schützenden Immunzellen unterscheiden. Dazu muss die Krankheit jedoch besser verstanden werden.

Ganz neue Möglichkeiten

Die Erforschung der Multiplen Sklerose erweist sich als besonders schwierig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Krankheitsherde beim Menschen im empfindlichen Hirngewebe eingebettet und den Forschern somit nicht zugänglich sind. Noch mehr als andere Zweige der Medizin ist die MS-Forschung daher auf geeignete Tiermodelle angewiesen, um die Krankheit zu untersuchen. Zusammen mit einem internationalen Team konnten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie nun ein ganz besonderes Tiermodell entwickeln. Die speziell gezüchteten Mäuse bilden spontan ein Krankheitsbild aus, das im Verlauf der häufigsten menschlichen MS-Form in unseren Breiten täuschend ähnlich ist. Da sich ja auch beim Menschen die Krankheit spontan entwickelt, ist das neue Modell allen bisherigen Modellen überlegen - diese zeigen erst nach einer Injektion mit Hirngewebe Symptome der MS. Und tatsächlich führte die Untersuchung des neuen Modells gleich zu einer kleinen Sensation: Zur spontanen Entstehung der Krankheit braucht es deutlich mehr Immunzellen als bisher angenommen.

Verkannte Bedeutung

Bisher ging die MS-Forschung davon aus, dass die Krankheit vor allem durch Angriffe der sogenannten T-Zellen entsteht. Diese Zellen des Immunsystems stellen eine Art 'Sofortmaßnahme' gegen Krankheitserreger dar - sie erkennen Erreger, aktivieren die Immunantwort und lösen so die Zerstörung der schädlichen Zellen aus. Neben T-Zellen gibt es auch noch die sogenannten B-Zellen. Auch sie reagieren auf einen Erreger, werden aktiviert und beginnen sich sehr rasch zu teilen. Es entstehen Tausende Zellen, die alle einen Erreger-spezifischen Antikörper produzieren. Durch das gezielte Zusammenspiel von T- und B-Zellen kann eine Invasion von Erregern schnell und effektiv eingedämmt werden.

Anders als den T-Zellen wurde den B-Zellen bisher nur eine untergeordnete Rolle bei der Entstehung der Multiplen Sklerose eingeräumt. Zu Unrecht, wie das neue Modell nun zeigt - die tatsächliche Rolle der B-Zellen war bei den bisher experimentell herbeigeführten Krankheitsmodellen nur nicht zum Vorschein gekommen.
Auch in dem neuen Mausmodell greifen T-Zellen das körpereigene Hirngewebe an. Dies reicht jedoch nicht aus um die Krankheit auszulösen, denn entfernten die Wissenschaftler die B-Zellen, so blieben die Tiere gesund. "Diese Beobachtung hat uns alle überrascht, wiedersprach sie doch der herrschenden Lehrmeinung", erinnert sich Gurumoorthy Krishnamoorthy. Das neue Modell zeigt nun, dass es zunächst zu einer Interaktion zwischen T- und B-Zellen kommen muss - erst das daraus entstehende Heer an B-Zellen löst mit seinen Antikörper-Attacken die volle Krankheit aus.

Aggressiver als andere

Auch wenn B-Zellen eine deutlich größere Rolle zukommt als bisher gedacht steht nach wie vor fest, dass T-Zellen Nervenzellen bei der Multiplen Sklerose massiv schädigen können. Dabei können T-Zellen im Prinzip jeden Bestandteil des Nervensystems als Fremdkörper fehldeuten und attackieren. Allerdings ist es sehr wohl bekannt, dass manche der 'selbst-reagierenden' T-Zellen deutlich aggressiver sind als andere. Eine Gruppe dieser 'speziellen' T-Zellen erkennt und attackiert das Protein MOG, das sich auf der Oberfläche von Hirnzellen befindet. Zur großen Überraschung der Neuroimmunologen greifen diese Zellen doch auch solche Mäuse an, denen MOG fehlt. "Dieser Fund war völlig unerwartet, denn ohne MOG sollten die T-Zellen eigentlich gar nichts angreifen können", erinnert sich Krishnamoorthy. Erst eine groß angelegte biochemische Untersuchung brachte des Rätsels Lösung: T-Zellen, die MOG als Fremdkörper erkennen, reagieren auch noch auf ein zweites, völlig anderes Protein im Gehirn.

Neues Verständnis - mögliche Therapien

"Solche doppelt oder vielleicht sogar dreifach aktivierten T-Zellen könnten der Grund für die deutlich höhere Aggressivität dieser Zellen sein", überlegt Hartmut Wekerle, der Leiter der Studie. Und natürlich denkt der Mediziner gleich einen Schritt weiter: "Wir müssen nun einen Weg finden diese speziellen T-Zellen im Patienten zu identifizieren." Darauf aufbauend könnten dann Therapien entwickelt werden, die ganz spezifisch die Aktivität dieser besonders aggressiven T-Zellen unterdrücken, oder sie aus dem Gewebe entfernen. Solch eine Therapie sollte deutlich weniger Nebenwirkungen haben als die bisherigen, eher unspezifischen Ansätze.

Das neue Tiermodell, das die menschliche Form der Krankheit viel besser simuliert, ermöglicht überraschende Einblicke in die Rolle der B-Zellen bei der spontanen Entwicklung der MS. Dies und der verblüffende Fund, dass besonders aggressive T-Zellen von verschiedenen Proteinen aktiviert werden, sind jeder für sich ein beachtlicher Schritt voran in der Erforschung der Multiplen Sklerose. Alle diese Erkenntnisse könnten Grundlage für die Entwicklung neuer Therapieansätze bieten.

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