Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Martinsried)
Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse
The Achilles heel of nerve cells
Klinische Neuroimmunologie (Hohlfeld, Abteilung Neuroimmunologie) (Prof. Dr. Hartmut Wekerle)
MPI für Neurobiologie, Martinsried
Neuroimmunologie (Wekerle) (Prof. Dr. Hartmut Wekerle)
MPI für Neurobiologie, Martinsried
MS: Krankheit mit den tausend Gesichtern
Lähmungen, Empfindungsstörungen, Sehstörungen – nicht umsonst wird Multiple Sklerose (MS) auch „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt. Allein in Deutschland sind schätzungsweise 100.000 Menschen betroffen – und bei jedem von ihnen kann die Krankheit anders in Erscheinung treten. Ihren Verlauf langfristig vorherzusagen ist deshalb meist schwierig. Eines haben jedoch alle Patienten gemein: Durch den Angriff der Abwehrzellen des eigenen Immunsystems verlieren Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark ihre Umhüllung aus Myelin. Langfristig werden die so geschädigten Nervenzellen zunehmend geschwächt und anfällig für weitere Angriffe. Moderne bildgebende Verfahren und mikroskopische Untersuchungen konnten kürzlich zeigen, dass es im Verlauf der Multiplen Sklerose außerdem zu einer Zerstörung der Nervenzell-Axone kommt. Axone sind die „Verbindungskabel“, die Informationen zwischen Nervenzellen und ihren Kommunikationspartnern wie Organen und Geweben weiterleiten. Wissenschaftler sind sich nun einig, dass die irreversible Zerstörung dieser Axone die Ursache für bleibende Behinderungen der Patienten ist. Interessanterweise sind auch Axone mit intaktem Myelinmantel von der Zerstörung betroffen.
Suche nach Tätern und Opfern
Um den Ablauf der fehlgeleiteten Immunantwort bei Multiple Sklerose-Patienten besser zu verstehen, haben sich Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und des Instituts für klinische Neuroimmunologie (LMU) zusammen mit einem internationalen Team auf eine detaillierte Suche nach angreifenden Antikörpern und ihren Zielstrukturen im Nervensystem gemacht [1]. Am Anfang dieser Untersuchung stand die Frage, welche Myelinbestandteile von Antikörpern im Blut erkannt werden.
Zur Beantwortung dieser Frage reinigten die Wissenschaftler zunächst das Myelin. Hieraus konnten dann Glykoproteine isoliert werden. Diese Proteine sind typischerweise an der Außenseite von Zellen angebracht und sollten daher als mögliche Zielstrukturen für Antikörper zugänglich sein. Ausgestattet mit diesem Material konnten die Wissenschaftler Antikörper mit hoher Empfindlichkeit nachweisen. Spannende Ergebnisse ließen da nicht lange auf sich warten: Etwa 20% der Multiple Sklerose- Patienten hatten Antikörper in ihrem Blut gegen ein Protein mit einem Molekulargewicht von etwa 150 kDa. Zur Identifizierung dieses Proteins kombinierten die Forscher verschiedene Trenn- und Nachweisverfahren wie die zweidimensionale Gelelektrophorese und die Massenspektrometrie. Am Ende war klar, dass es sich bei diesem Protein um Neurofascin handelt (Abb. 1).
Die zwei Gesichter des Neurofascins
Dies war ein sehr spannender Fund, denn Neurofascin kommt nicht nur als Bestandteil des Myelin-Mantels vor (NF155 - Form), sondern ist in einer zweiten Form auch direkt auf der Oberfläche der Nervenfasern zu finden (NF186 - Form). Die Wissenschaftler, die ja zunächst nach Angriffsstrukturen im Myelin-Mantel gesucht hatten, fanden sozusagen als Bonus gleichzeitig ein Zielprotein auf der Nervenfaser. Auch in Bezug auf die Zugänglichkeit für Antikörper erwies sich die Nervenfaser-Form als sehr interessant. Während die Neurofascin-Form NF155 versteckt an der Kontaktstelle zwischen Myelin-Mantel und Nervenfaser sitzt, kommt NF186 an den Aussparungen des Myelinschilds, den Ranvier’schen Schnürringen, vor (Abb. 2). Diese myelinfreien Schnürringe treten in etwaigem Millimeterabstand entlang der Nervenfaser auf und sorgen für eine deutlich schnellere und effizientere Impulsübertragung entlang der Nervenfasern.
Angriff an der Schwachstelle
Doch wie bedeutend war dieser Fund, dass Antikörper Neurofascin im Reaganzglas erkennen und binden können? Um diese Frage zu beantworten, musste zunächst geklärt werden, welche der Neurofascin-Formen von Antikörpern erkannt werden und welche Folgen solch eine Bindung hat. Laboruntersuchungen ergaben, dass Antikörper aus dem Blut von Multiple Sklerose- Patienten tatsächlich beide Neurofascin-Formen erkennen und binden können. Im gesunden Körper versperrt der Myelin-Mantel jedoch den Zugang zu der dort eingebetteten NF155-Form. Ein Angriff an dieser Stelle ist somit erst möglich, nachdem die Barriere schon durch andere Mechanismen geschädigt wurde.
Anders verhält es sich mit der NF186-Form, die direkt auf der Oberfläche der Nervenzelle an den Ranvier’schen Schnürringen verankert ist. Hier ist Neurofascin nur noch durch die Blut-Hirn-Schranke vor einem Angriff der entsprechenden Antikörper geschützt. Doch diese Schranke wird in einem der frühen Stadien der Multiplen Sklerose porös und damit für Antikörper durchlässig. Antikörper können sich so direkt an das Schnürring-Neurofascin anlagern (Abb. 3), was im Modellversuch zu einer Blockierung der Nervenleitung, einer Schädigung der Axone und einer generellen Verstärkung der Krankheitssymptome führte. Während die Ranvier’schen Schnürringe somit im gesunden Organismus zu einer effizienteren Arbeit der Nerven führen, sind sie die Achillesferse der Nervenfasern bei fehlgeleiteten Immunangriffen.
Möglicher Therapieansatz?
Die direkte Schädigung der Nervenzellen durch Antikörper offenbart einen völlig neuen Angriffsmechanismus der komplizierten Krankheit Multiple Sklerose und könnte zum Krankheitsbild einiger Patienten beitragen. Zurzeit entwickeln die Wissenschaftler daher ein Testverfahren, mit dem sich die Konzentration der Antikörper gegen Neurofascin im Blut ermitteln lässt. Dadurch könnte dann untersucht werden, ob ein Vorkommen oder eine Akkumulation von Neurofascin-Antikörpern tatsächlich mit einem besonders schweren Verlauf der Krankheit beim Menschen korreliert. Langfristig könnte dann zum Beispiel durch das Entfernen dieser Antikörper aus dem Blut ein neuer Therapieansatz entstehen.