Ausgekochter Stahl für das Auto von morgen

Am Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung haben Werkstoffwissenschaftler Leichtbaustähle entwickelt, die besonders fest und zugleich dehnbar sind. Ihr geringes spezifisches Gewicht und die mechanischen Eigenschaften machen sie zum idealen Werkstoff für die Automobilindustrie.

Text: Tim Schröder

Wenn man ans Stahlkochen denkt, stellt man sich wohl für gewöhnlich mächtige Hochöfen vor, in denen rot glühende Metallschmelze vor sich hin brodelt. Hat sie die richtige Temperatur erreicht, wird sie einfach abgegossen und flugs in eine neue Form gebracht. So scheint es. Doch die Stahlproduktion ist mehr als überdimensioniertes Bleigießen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes mit der hohen Schule des Kochens vergleichbar. Um einen Stahl mit bestimmten Eigenschaften herzustellen, bedarf es der richtigen Zutaten, des richtigen Rezepts und der Kreativität der Stahlkocher.

Georg Frommeyer ist einer dieser findigen Stahlexperten. Am Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung hat der Professor für Werkstofftechnik mit seinen Mitarbeitern Stahltypen entwickelt, die von großen Stahlkonzernen als „deutlicher Entwicklungssprung“ bezeichnet werden. Diese Stähle sind zugleich sehr leicht, extrem stabil und besonders dehnungsfähig. Damit eignen sich diese, wie es am Max-Planck-Institut heißt, „hochfesten supraduktilen TWIP/TRIP-Leichtbaustähle“ vor allem für die Fahrzeugindustrie.

Ganz gleich ob Auto oder Eisenbahn, stets geht es darum, die Verkehrsmittel zugleich stabiler, leichter und sicherer zu machen. Zum einen sollen die Karosserien Insassen bei Unfällen immer besser schützen. Zum anderen wollen die Ingenieure sie möglichst leicht konstruieren, um den Kraftstoffverbrauch und die Abgasemissionen zu senken. Die Stahlhersteller haben längst erkannt, dass ihnen Aluminium und neue Materialien wie Magnesium oder Kunststoffe zunehmend Konkurrenz machen. Um im Rennen zu bleiben, müssen sie die Stähle leichter, fester und verformbarer als die Konkurrenzprodukte machen.

Stahl besteht zum großen Teil aus Eisen. Seine unterschiedlichen Eigenschaften erhält er unter anderem durch Zugabe, Legieren, verschiedener Metalle wie Mangan, Nickel und Chrom. So entstehen rostfreie Stähle, hoch- oder gar höchstfeste Stähle – der richtige Werkstoff je nach Anwendung. An Stähle für Karosserien stellen die Autohersteller besondere Anforderungen. Sie sollen stabil genug sein, um das Gewicht des Fahrzeugs zu tragen, ohne sich zu verformen oder zu schwingen. Sie sollen starr genug sein, um die Insassen bei einer Kollision wie eine Schutzhülle zu umgeben, zugleich sollen sie sich beim Unfall kalkulierbar verformen, um die Aufprallenergie zu schlucken.

Zwar lassen sich nicht alle Eigenschaften mit einem einzigen Werkstoff erreichen, aber die Stähle aus den Düsseldorfer Max-Planck-Laboren sind wahre Multifunktionswerkstoffe, die immerhin einige Funktionen übernehmen. „Vor wenigen Jahren noch ging die Fachwelt davon aus, dass die Eigenschaften von Stählen bereits weitgehend ausgereizt sind“, sagt Frommeyer. „Durch Zulegieren anderer Elemente ließen sich bereits eine Vielzahl von Funktionen einstellen.“ Die Max-Planck-Forscher waren aber davon überzeugt, dass sich aus dem altbewährten Werkstoff noch mehr herausholen lässt – zunächst nur aufgrund theoretischer Überlegungen und ihrer langjährigen Erfahrung.

Leichtbaustähle, die sich berechnen lassen

Die Eigenschaften verschiedener Stähle hängen zum einen von ihren Kristallgitterstrukturen ab, also der räumlichen Anordnung der Atome in den winzigen Kristallen, dich sich beim Abkühlen einer Schmelze bilden. Zum anderen werden die Qualitäten von dem Gefüge bestimmt, das die Kristalle bilden und das seinerseits von deren Struktur abhängt. Durch Zugabe der Legierungselemente bilden sich bestimmte Kristallstrukturen bevorzugt aus. Werkstoffforscher sprechen von energetisch begünstigten Kristallgitterstrukturen. So lässt sich der Charakter des Stahls feinjustieren.

Welche Kristallstrukturen energetisch günstig sind, verraten den Forschern thermodynamische Berechnungen. Daraus folgerten sie, dass sich für die Entwicklung der neuen Leichtbaustähle vor allem eine Kombination aus Mangan, Silizium und Aluminium eignen müsste. Zum einen sind diese Elemente leichter als Eisen, zum anderen zwingen sie das Kristallgitter in bestimmte Strukturen: Eisen kann zwischen verschiedenen Kristallanordnungen wechseln. So gibt es eine kubisch flächenzentrierte Anordnung – die von Fachleuten auch als Austenit bezeichnet wird. Die Eisenatome sitzen hier auf den Ecken des Kristallgitterwürfels, und zusätzlich besetzt je ein Atom die Mitte jeder Würfelfläche.

Des Weiteren existiert die kubisch raumzentrierte Variante. Hier ordnen sich die Eisenatome wiederum auf den Würfelecken an. Zusätzlich findet eines im Zentrum des Würfels Platz. Im hexagonalen Typ verteilen sich die Eisenatome in Sechseck-Form. Sowohl die kubisch raumzentrierte als auch die hexagonale Form werden auch als Martensit bezeichnet. Je nachdem wie groß die Gehalte der einzelnen Legierungselemente – der fremden Atome im Kristallgitter – sind, verändert sich das Kristallgitter und somit der Charakter des Stahls.

In den großen Werkshallen des Max-Planck-Instituts kochen die Wissenschaftler ihre verschiedenen Stahllegierungen und untersuchen die Varianten. Mannshohe Schmelzanlagen stehen dort. Mehr als zentnerschwere Gussblöcke lassen sich mit unterschiedlichen Schmelzverfahren herstellen und anschließend zu Blechen auswalzen. An anderen Maschinen testen Techniker fingerbreite Stahlproben. Die werden in eine Art Schraubstock eingespannt und gedehnt: Wie stark gibt der Stahl nach? Wann reißt er?

Die Messwerte für die neu entwickelten Stähle waren überwältigend. Die Stähle erwiesen sich als extrem fest und zugleich sehr dehnbar, vor allem Stahl mit einem Gehalt von 15 Prozent Mangan und jeweils drei Prozent Aluminium und Silizium. Er lässt sich um mehr als 50 Prozent dehnen. Zugleich verfestigt er sich stark, ohne zu zerreißen. Er widersteht Spannungen von bis zu 1100 MegaPascal. Das entspricht in etwa dem Gewicht von zehn Elefantenbullen auf einer Briefmarke.

Kippende Kristallstruktur macht Stahl dehnbar

Herkömmliche höherfeste Karosseriestähle reißen bereits bei etwa 700 MegaPascal. Verblüffend war auch das Verhalten von Stahl mit einem Anteil von 25 Prozent Mangan und jeweils 3 Prozent Aluminium und Silizium (MnAlSi 25 3 3). Zwar verfestigte der sich nicht so stark. Er ließ sich aber um etwa 90 Prozent in die Länge ziehen, ohne zu zerreißen. Frommeyer: „Eine solche Duktilität, Dehnbarkeit, erreicht nicht einmal Gold, das als ausgesprochen duktil gilt. Bei 60 Prozent Dehnung ist da Schluss.“

Die neue Legierung ähnelt den Trip-Stählen, die seit etwa zehn Jahren auf dem Markt sind. Trip steht für transformation induced plasticity, zu Deutsch: durch Kristallgitter-Transformation induzierte plastische Verformbarkeit. Wie die Stähle aus den Mülheimer Schmelztöpfen zeichnet sich auch herkömmlicher Trip-Stahl durch eine hohe Festigkeit von bis zu 700 Mega­Pascal aus. Ihre Dehnbarkeit hingegen ist mit rund 35 Prozent eher moderat. Ihr Verhalten – Dehnung bei gleichzeitiger Verfestigung – ist auf Umformungen im Kristallgitter zurückzuführen.

Werden Kräfte auf den Stahl ausgeübt, kippen die Kristallgitter aus der kubisch flächenzentrierten Austenitstruktur in die kubisch raumzentrierte – den Martensit. Diese kollektive Scherung der Kristallgitterebenen bewirkt letztlich die Dehnbarkeit im herkömmlichen Trip-Stahl.

Bereits für die Produktion der Autos ist das von großer Bedeutung, denn Karosserie-Bleche werden zumeist mit dem sogenannten Tief- oder Streckziehen umgeformt. Dabei wird ein Blech in eine Presse gelegt und in die richtige Form gedrückt. Je dehnbarer ein Stahl, desto eher macht er die Verformung mit, ohne zu zerreißen. Allerdings verwandelt sich beim herkömmlichen Trip-Stahl bereits während des Tiefziehens eine gewisse Menge des Austenit-Anteils in seine martensitische Form – jene feste Kristallstruktur, die sich kaum noch dehnen lässt. Für den Fall eines Crashs bleiben nur etwa fünf Prozent Dehnungsreserve übrig.

Stapelfehler in der Kristallstruktur erhöhen die Dehnbarkeit zusätzlich

Auch der Stahl aus Düsseldorf hat Trip-Eigenschaften. Dank der besonderen Legierungszusammensetzung, der im Eisenkristall gelösten Mangan-, Silizium- und Aluminium-Atome, verfügt dieser aber über einen doppelten Trip-Effekt. Er besitzt also eine Art doppelter Dehnungsreserve. Der Grund: Die Legierungselemente ermöglichen zwei martensitische Umwandlungen. Wirken Kräfte auf den Stahl, etwa beim Tiefziehen, wandelt sich der Austenit zunächst zumindest teilweise in die hexagonale martensitische Stufe um. Wird der Stahl ein zweites Mal beansprucht, kippt das hexagonale Gitter in die endgültige kubisch raumzentrierte Form – wie beim herkömmlichen Trip-Stahl.

So behält der Stahl auch nach dem Tiefziehen ein gute Portion Dehnungsvermögen. Bis zu 35 Prozent kann sich das Material bei einem Aufprall noch verformen, ehe es versagt. So eignet sich Frommeyers Stahl beispielsweise für den Seitenaufprall-Schutz. Das Material gibt nach und federt die Wucht des Aufpralls ab. Zugleich verfestigt es sich extrem stark. So wird verhindert, dass die Seitenteile zu stark nachgeben und die Fahrzeuginsassen verletzt werden.

Die besondere Dehnbarkeit der Legierung mit einem Mangan-Gehalt von 25 Prozent lässt sich mit dem doppelten Trip-Effekt indes nicht erklären. „Die Ursache liegt hier in kleinen Fehlern im Kristall – den sogenannten Stapelfehlern“, erläutert Frommeyer. Stapelfehler kann man sich als Verschiebung in regelmäßig aufeinandergestapelten Atomlagen vorstellen.

An einem solchen Stapelfehler kann eine Kristallstruktur umklappen, sodass sich die Kristallebenen ab der Verschiebung genau in umgekehrter Reihenfolge stapeln. Beim Umklappen entsteht eine Spiegelebene, auf deren beiden Seiten die Kristallbereiche gespiegelt erscheinen. Experten sprechen von Zwillingsbildung. Und die macht sich von außen als extreme Dehnung bemerkbar.

Für die Werkstoffforscher bestand die Herausforderung darin, diesen Mechanismus zu erleichtern. Denn um einen Zwilling zu bilden, muss die sogenannte Stapelfehler-Energie aufgebracht werden – eine Art Zündtemperatur. Ist die erforderliche Stapelfehlerenergie zu hoch, bleibt die Zwillingsbildung aus. Wird der Stahl gedehnt, verschiebt sich der Kristall stattdessen an Versetzungen, ungeordneten mikroskopisch kleinen Kristallbaufehlern. So lässt sich der Stahl zwar ebenfalls verformen. Die Dehnung aber ist wesentlich geringer, da sich die Versetzungen nach kurzer Zeit blockieren und gegenseitig an der Ausbreitung hindern. Der Werkstoff reißt.

Wie sich zeigte, ist die Stapelfehler-Energie in der MnAlSi-25-3-3-Legierung so weit herabgesetzt, dass die Zwillingsbildung rasch einsetzt. Bereits bei Kräften um die 300 MegaPascal beginnt sich der Stahl plastisch zu verformen. Experten sprechen vom Twip-Effekt, kurz für twinning induced plasticity: durch Zwillingsbildung induzierte Plastizität.

Viele Kooperationen mit der Autoindustrie

Auch der Twip-Effekt spielt für Fahrzeugstähle eine große Rolle. Ein Auto besitzt – zum Beispiel im Motorraum – verschiedene Crashbauteile, die sich bei einem Aufprall zusammenfalten. Sie müssen viel Energie absorbieren. Und genau das können die Twip-Stähle durch ihre einzigartige Dehnungsreserve.

Beinahe noch wichtiger, ist ihre Fähigkeit, Kräfte extrem schnell aufzunehmen. Selbst bei einem Aufprall mit hoher Geschwindigkeit setzt der Twip-Effekt ein. Die Bewegung von Versetzungen hingegen ist geschwindigkeitsabhängig. Je schockartiger der Aufprall, umso weniger setzen sie sich fort. Im Extremfall reißt der Stahl – das Energie-Aufnahmevermögen ist dahin. Für die Automobilhersteller ist gerade die schnelle Dehnungsfähigkeit des Twip-Stahls von großem Interesse.

So kooperiert Frommeyers Arbeitsgruppe seit längerer Zeit mit verschiedenen Automobilherstellern wie der BMW AG, der Daimler AG, der Volkswagen AG und dem Ford Forschungszentrum in Aachen. An Prototypen und verschiedenen Karosseriebauteilen werden dort Tiefziehfähigkeit und andere Eigenschaften getestet. Zu den Partnern gehören auch die Salzgitter AG und die ThyssenKrupp Stahl AG.

„Wir sehen das große Potenzial bei den Twip/Trip-Stählen. Zum einen aufgrund der Kombination aus Festigkeit, Duktilität und Dichte. Zum anderen gibt es ein riesiges Marktinteresse“, sagt Hans Fischer, Vorstand Stahl bei der Salzgitter AG. Dafür hätten Frommeyer und seine Mitarbeiter eine hervorragende Grundlage gelegt.

Auch im Ausland geht die Forschung an diesen Stahlklassen weiter. Dort arbeiten Werkstoffwissenschaftler in den Forschungslaboratorien und Entwicklungsabteilungen internationaler Stahlkonzerne wie ArcelorMittal, Hoechst-Alpine, BAO Steel in China und NIPON Steel in Japan sowie Unternehmen in Südkorea an der praktischen Verwendung dieser Stähle.

Innovationspreis für jüngste Stahlentwicklung

Unter der Bezeichnung Trip-Stahl werden sie jedoch nicht ausgeliefert. Schließlich verhalten sie sich deutlich anders als herkömmliche Trip-Stähle. Letztlich hat die neue Klasse hochfester Stähle mit den klassischen Trip-Qualitäten nur noch wenig gemein. Die Salzgitter AG wird sie deshalb unter der Bezeichnung HSD-Stahl (High Strength and Ductility – hohe Festigkeit und Duktilität) auf den Markt bringen.

Zum einen sind diese Stähle dank der geringen Dichte ihrer Legierungselemente ausgesprochen leicht. Zum anderen sind sie zwar nicht so steif, aber immerhin etwa doppelt so fest wie die derzeit verwendeten höherfesten Karosseriestähle. Die neuen Twip/Trip-Stähle lassen sich also in dünneren Blechstärken verbauen.

Wie hoch die Gewichtseinsparung am Ende sein wird, kann Niemeyer derzeit noch nicht genau sagen. Denn je nachdem wo die Automobilproduzenten das Material einsetzen, liegt der Wert höher oder niedriger. „Derzeit gehe ich von einer Gewichtseinsparung zwischen 10 und 20 Prozent aus, wobei für manche Bauteile auch bis zu 30 Prozent möglich sind“, sagt er.

In jüngster Zeit ist am Düsseldorfer Max-Planck-Institut noch ein weiteres Stahl-Leichtgewicht entstanden, der Triplex-Stahl. Dafür erhielten die Max-Planck-Forscher im Rahmen des Stahl-Innovationspreises 2009, den das Stahl-Informations-Zentrum vergibt, den ersten Preis in der Kategorie „Stahl in Forschung und Entwicklung“. Triplex-Stahl enthält drei Phasen: Austenit, Ferrit – eine weitere Variante des Eisens – sowie fein und homogen verteilte Nanopartikel, Carbide. Georg Frommeyers ehemaliger Mitarbeiter Udo Brüx, der heute im Ford Forschungszentrum arbeitet, hat den Stahl maßgeblich mitentwickelt.

Triplex-Stahl ist noch einmal acht bis zehn Prozent leichter als seine Twip/Trip-Vettern. Doch was seine Eigenschaften betrifft, kann er locker mithalten. Er ist härter als Twip- und dehnbarer als Trip-Stahl. Das liegt vor allem an den fein verteilten Carbiden, die Austenit- und Ferritbereiche leicht gleiten lassen. Noch müssen Werkstoff und Herstellungsverfahren optimiert werden. In wenigen Jahren aber dürfte der Triplex-Stahl in der Automobilherstellung ein Renner sein.

GLOSSAR

Trip-Effekt
Durch Transformation induzierte Plastizität: Unter Belastung ändert sich die Kristallstruktur – etwa vom Austenit zum Martensit –, so dass die Dehnbarkeit erhöht wird.

Twip-Effekt
Durch Zwillingsbildung induzierte Plastizität: Unter Belastung klappt die Kristallstruktur an einem Stapelfehler um, und es bildet sich ein Zwilling. Dieser Prozess absorbiert sehr viel Aufprallenergie.

Stapelfehler
Unregelmäßigkeit in der Abfolge der Atomlagen in einem Kristall.

Kristall-Zwilling
Tritt auf, wenn sich die Abfolge der Kristall-ebenen an einem Stapelfehler umkehrt – etwa von ABC in CBA. Es entstehen zwei Kristalle, die symmetrisch von einer gemeinsamen Ebene aus wachsen.

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