Aufnahme in Rote Listen ist Verhandlungssache

Ob bedrohte Arten oder Kulturgüter – was davon als schützenswert gilt, ist nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse

27. Juni 2012

Auf den ersten Blick haben ein Usambara-Frosch, die Wiener Kaffeehaus-Kultur und die Ndai-Sprache in Kamerun nicht viel gemeinsam - bis auf die Tatsache, dass allesamt als gefährdet kategorisiert worden sind. "Diese Klassifizierung ist allerdings nicht aufgrund wissenschaftlich fundierter Kriterien erfolgt, denn es gibt keine universell gültigen Maßstäbe in Zusammenhang mit Gefährdung und Bewahrung", sagt der Wissenschaftshistoriker Fernando Vidal. Er hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin den Begriff der Gefährdung untersucht und dabei herausgefunden: Politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Verhandlungen beeinflussen maßgeblich die Entscheidung, ob etwas auf eine Liste gefährdeter Arten oder Kulturgüter kommt oder nicht. "Objektive Kriterien oder universell gültige Werte gibt es in diesem Zusammenhang nicht", so der Forscher.

Wenn man etwas als gefährdet wahrnimmt und etikettiert, hat das eine Reihe von Konsequenzen. "Zum Beispiel ist Gefährdung in einer Art Rückkopplungsschlaufe mit Wertschätzung gekoppelt", erklärt er den Mechanismus hinter der Etikettierung: "Wir schützen Dinge, die wir wertschätzen und umgekehrt werden Dinge wertvoller, wenn sie bedroht scheinen." Besonders kostbar werden sie, wenn sie offiziell auf die Rote Liste gefährdeter Arten der Internationalen Union für die Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen aufgenommen und Maßnahmen zu ihrer Rettung getroffen wurden. Dieser Prozess hat schon häufig zu Zusammenstößen geführt. Viele dieser Konflikte sind im Kern Konflikte zwischen Bewahrung und Menschenrechten. "Denn meist geht es darum, dass die Bewahrer etwas schützen und erhalten wollen, dessen Nutzung andere als Teil ihrer Existenz oder Kultur betrachten", sagt er. Außerdem setzt Gefährdung eine Reihe von wissenschaftlichen und administrativen Verfahren in Gang, um die Existenz einer Bedrohung festzustellen, ihre Intensität zu messen und das gefährdete Gut zu schützen. Unter anderem führt dies dazu, dass unterschiedliche Dokumentationssysteme, wie etwa Archive, Kataloge, Datenbanken und Atlanten, erstellt werden.

Letztlich geht es um den Erhalt biologischer Vielfalt und damit auch der breiten Palette von Lebensmitteln, die sich möglicherweise eines Tages überlebenswichtig für die Menschheit erweisen kann. Doch bezieht sich diese Vorstellung von Gefährdung nicht allein auf biologische Systeme, sagt Vidal. "Zunehmend verwischten sich bei seiner Anwendung die Grenzen zwischen Natur und Kultur." Als ein Beispiel unter vielen nennt Vidal jenen Experten der Vereinten Nationen, der die Ansicht vertritt, die Vorratshaltung von Saatgut allein sei nicht ausreichend, um im Falle künftiger Notlagen die Nahrungsmittelproduktion zu sichern. Die mühsam erworbene Weisheit der Bauern in aller Welt, die über Generationen die Saaten und das Zuchtvieh geschaffen haben, sei ebenso schützenswert.

Doch das Identifizieren und Katalogisieren hat auch Nachteile. Zwar unterstützt es einerseits die Einschätzung des Risikos und eröffnet Wege für Erhaltungsstrategien. "Auf der anderen Seite gehen die Bewertung und Bewahrung oft einher mit Interessens- und Interpretationskonflikten", beschreibt Vidal die Kehrseite der Medaille. Ein gutes Beispiel liefert die Walfang-Politik. Die wissenschaftliche Ungewissheit über die Populationsgrößen der Meeressäuger, Auswirkungen der Umweltveränderungen, maximalen nachhaltigen Fangquoten sowie deren Kontrollen führt zu Auseinandersetzungen, die wiederum bei den Verhandlungen zwischen Wissenschaftlern, Naturschützern, traditionellen Walfängern und der Walindustrie eine wesentliche Rolle spielten und letztlich auch Politik und Wissenschaft beeinflussten

Wissenschaft mag vielleicht Sachverhalte feststellen - etwa die schwindende Anzahl bestimmter Spezies. Doch über die Bedeutung dieser Feststellung ist damit noch nichts gesagt. Ebenso wenig folgen daraus zwangsläufig bestimmte Konsequenzen, etwa die Empfehlung, Maßnahmen zur Bewahrung einzuleiten. "Das sind soziale Erwägungen", so Vidal. So würde beispielsweise niemand auf die Idee kommen, Malariamücken oder Zecken auf die Rote Liste zu setzen, selbst wenn diese tatsächlich vom Aussterben bedroht sein sollten. Anders hingegen sieht die Sache bei Panda, Tiger, Koala oder anderen Arten aus, die offenbar auf Menschen charismatischer wirken als Einzeller, Pflanzen oder Insekten.

Was als "bedroht" oder "gefährdete Art" gilt, unterliegt unterschiedlichen Werten, politischen Entscheidungen, wissenschaftlichen Debatten und Kontroversen zwischen Gruppen mit widersprüchlichen Interessen, beispielsweise zwischen der Walfangindustrie, Naturschutzorganisationen und Ureinwohnern. „Unsere Untersuchung hilft vielleicht dabei, dieser Tatsache ins Auge zu sehen", so Vidal.

Die Bedeutung von Roten Listen und Artenschutzprogrammen und ihren Äquivalenten im Bereich der Kulturerbschaften sieht er damit keineswegs in Frage gestellt: "Sie sind Instrumente, die die Sorge des Menschen um seine eigene Zukunft verkörpern. Das Bewusstsein, dass ihre Gültigkeit von historischen und kulturellen Faktoren abhängt, könnte dazu beitragen, solche Instrumente in Zukunft zu verbessern.“

BF/HR

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