Ein Gen für die Männlichkeit

Braunalgen und Tiere haben bei der Geschlechtsbestimmung einen ähnlichen Weg eingeschlagen
 

Forschende des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen haben gezeigt, dass ein HMG-Box-Gen in Braunalgen für die Bestimmung des männlichen Geschlechts entscheidend ist. Dieser Durchbruch erweitert unser Verständnis der Mechanismen zur Geschlechtsbestimmung in eukaryotischen Organismen erheblich. Bislang waren die Gene, die maßgeblich zur Geschlechtsbestimmung beitragen, nur bei einigen wenigen Tieren und Pflanzen identifiziert worden. Die Studie beleuchtet die evolutionären Parallelen zwischen den Entwicklungswegen von Tieren und Algen, obwohl diese vor Millionen von Jahren unabhängig voneinander entstanden sind. Sie unterstreicht die wiederkehrende Verwendung eines gemeinsamen genetischen „Bausatzes“ für lebenswichtige biologische Funktionen bei weit voneinander entfernten Abstammungslinien. Die Forschungsergebnisse bieten nicht nur tiefere Einblicke in die Fortpflanzungsbiologie von Braunalgen, sondern decken auch entfernte evolutionäre Konvergenzen auf.
 

Braunalgen sind marine, mehrzellige, photosynthetische Eukaryoten. Diese Organismen haben unabhängig von Pflanzen und Tieren mehrere wichtige biologische Merkmale entwickelt, wie zum Beispiel Mehrzelligkeit, komplexe Lebenszyklen und Geschlechtschromosomen. Aufgrund dieser einzigartigen Merkmale eignen sich Braunalgen hervorragend als Modellorganismen für die Untersuchung der evolutionären Aspekte der Fortpflanzung.

Während die meisten sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen oft eindeutig männlich oder weiblich sind, unterscheidet sich die genetische Regulation, die der Geschlechtsbestimmung zugrunde liegt, von Art zu Art erheblich. Diese Vielfalt erstreckt sich auch auf das scheinbar einfache Erscheinungsbild von Braunalgen, die über faszinierende Mechanismen zur Geschlechtsbestimmung verfügen.

Unterschiedliche Geschlechtschromosomen

Säugetiere besitzen das XX/XY-System, bei dem die Männchen ein X- und ein Y-Chromosom haben. Ähnlich verhält es sich beim ZZ/ZW-System, das bei Vögeln, Fischen und einigen Insekten zu beobachten ist: Hier haben die Männchen in der Regel beide ZZ-Chromosomen. XX/XY- und ZZ/ZW-Systeme existieren, da Tiere während der Embryonalentwicklung zwei Kopien ihres Genoms in sich tragen - eine Kopie von jedem Elternteil. Diese Systeme enthalten spezifische Faktoren, die die männliche oder weibliche Differenzierung auslösen, wobei bekannte geschlechtsbestimmende Faktoren auf dem Y- bzw. W-Chromosom identifiziert wurden.

Im Gegensatz dazu ist das U/V-System weniger gut erforscht: In Algen, Moosen und Flechten wurde nur ein geschlechtsbestimmender Faktor identifiziert. Pilze wiederum sind nicht auf spezielle Geschlechtschromosomen angewiesen. Sie verwenden sogenannte „Paarungstyp-Gene“, um ihr Geschlecht und ihre Fortpflanzungspartner zu bestimmen.

Eine Besonderheit der Braunalgen ist die Übernahme des U/V-Geschlechtschromosomensystems. Braunalgen bestimmen ihr Geschlecht in ihrem haploiden Stadium (d. h. mit nur einer Kopie ihres Genoms), im Gegensatz zu diploiden Tieren, die zwei vollständige Chromosomensätze tragen. Braunalgen tragen nur das männliche V- oder das weibliche U-Chromosom und bestimmen damit ihr Geschlecht.

Vor über einem Jahrzehnt identifizierten Forschende unter der Leitung von Susana Coelho eine geschlechtsspezifische Region im männlichen V-Chromosom der Braunalgen, die ein Gen enthält, das für ein HMG-Box-Protein kodiert, das sie später MIN (für „Male Inducer“) nannten. Die HMG-Box, eine DNA-Bindungsdomäne, ist in allen Eukaryonten in Chromatin-assoziierten Proteinen und Transkriptionsfaktoren zu finden, so auch im geschlechtsbestimmenden Faktor SRY beim Menschen und in den Faktoren zur Bestimmung des Paarungstyps bei Pilzen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte mit den verfügbaren Instrumenten und Methoden nicht nachgewiesen werden, ob MIN in diesen Organismen den männlichen Entwicklungsweg auslöst.

Genetisch veränderte Algen

"In ihrem natürlichen Lebensraum vollführen die Gameten von Braunalgen einen faszinierenden Paarungstanz," erklärt Rémy Luthringer, Experte für Algenzucht und Leiter der Algenkulturanlage am Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen. "Die weiblichen Gameten heften sich schnell an die Substrate und geben ein Pheromon, eine Art chemisches Signal, ins Meerwasser ab, um die Männchen anzulocken. Angezogen von diesem „Duft“ schwimmen die männlichen Gameten aktiv mit zwei Geißeln in immer engeren Kreisen um die Weibchen."

Mit der Crispr/Cas-Technologie konnten die Forscher das genetische Material dieser Braunalgen präzise anvisieren und bearbeiten. Sie nutzten dieses Werkzeug, um die biologische Funktion von MIN zu testen, indem sie Mutanten ohne das Protein erzeugten. Das Ergebnis war eindeutig: "Der komplizierte Paarungstanz der männlichen Gameten war in den Crispr-Mutantenlinien nicht vorhanden. Das bedeutet, dass die Gameten in Abwesenheit von MIN völlig unempfindlich gegenüber dem weiblichen Pheromon wurden."

Susana Coelho, Direktorin der Abteilung für Algenentwicklung und -evolution, merkt an: "Nachdem wir MIN, das geschlechtsbestimmende Gen in Braunalgen, ausgeschaltet hatten, konnten wir keine Geschlechtsumkehr beobachten. Stattdessen wurden die Männchen ungeschlechtlich. Das liegt daran, dass ihnen das komplementäre Chromosom, das weibliche U-Chromosom, fehlt. Dies deutet darauf hin, dass ein weiblicher Induktionsfaktor auf dem U-Chromosom noch entdeckt werden muss." Durch diese genetischen Experimente konnten die Forschenden Aufschluss über die komplizierten Mechanismen der männlichen Geschlechtsbestimmung in Braunalgen geben. "Die Identifizierung eines Gens mit HMG-Domäne als Hauptgeschlechtsfaktor der Braunalgen zeigt, dass Tiere und Algen unabhängig voneinander dieselbe Methode zur Bestimmung des männlichen Geschlechts entwickelt haben", sagt Coelho

Evolution der Geschlechtsbestimmung

Ein Blick in die Evolutionsgeschichte zeigt, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Algen und Tieren einzellig war und keine Geschlechtschromosomen besaß, die für diese beiden Organismengruppen charakteristisch sind. Vikram Alva, Projektleiter im Bereich Protein-Bioinformatik, erklärt: "Der Ursprung der HMG-Box-Domäne lässt sich bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren der Eukaryoten zurückverfolgen, während sich MIN im gemeinsamen Vorfahren der Braunalgen später entwickelte."

Die geschlechtsbestimmenden Faktoren in Braunalgen, Pilzen und Säugetieren weisen eine homologe HMG-Box-Domäne auf, was darauf hindeutet, dass sie auf eine gemeinsame genetische Vorgeschichte zurückgehen. "MIN und SRY sind zwar homolog, aber nicht ortholog. Sie entstanden, nachdem sich die Linien der Braunalgen und der Tiere bereits auseinander entwickelt hatten. Ihre funktionellen Ähnlichkeiten sind ein Beispiel für eine konvergente Evolution, bei der die HMG-Box-Domäne trotz ihrer getrennten evolutionären Wege in allen Organismen eine ähnliche Rolle übernommen hat”, sagt Alva.

Einfach ausgedrückt ist es so, als würden Legosteine aus derselben Schachtel verwendet, um verschiedene Gene zu bauen. Die Legosteine haben funktionelle Ähnlichkeiten und eine gemeinsame Abstammung, aber die Ergebnisse sind unterschiedlich. "Und in diesem Fall haben Tiere und Braunalgen unabhängig voneinander ähnliche Bausteine verwendet, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, nämlich die männliche Geschlechtsbestimmung," erklärt Josué Barrera-Redondo, ein Humboldt-Forschungsstipendiat in Coelhos Team. Ein zukünftiges Forschungsvorhaben wird sein, das Gen zu identifizieren, das die weibliche Geschlechtsbestimmung in Braunalgen maßgeblich steuert, und ihren asexuellen Phänotyp zu verstehen, wenn den Algen das U-Chromosom fehlt.

Die Identifizierung dieses zentralen MIN-Gens ermöglicht es den Forschenden, die evolutionäre Dynamik, die die Mechanismen der Geschlechtsbestimmung im gesamten Stammbaum des Lebens prägt, tiefer zu ergründen und über die traditionellen Tier- und Pflanzenmodelle hinauszugehen. Diese Forschungsrichtung hat das Potenzial, ein umfassenderes Bild der genetischen Mechanismen zu liefern, die der Geschlechtsbestimmung bei Braunalgen zugrunde liegen, und damit zu unserem breiteren Verständnis der Evolutionsbiologie und der Regulation der Entwicklung beizutragen.

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