Gedächtnis, Vergessen und soziales Lernen
Ein Simulationsmodell zeigt, wie Gemeinschaften wichtige Informationen innerhalb und über Generationen hinweg bewahren können
Welche Faktoren dazu betrugen, dass Kultur und dabei insbesondere die Fähigkeit, voneinander zu lernen, während der Evolutionsgeschichte durch natürliche Selektion begünstigt wurde, wird in Fachkreisen seit Langem heftig debattiert. Forscherinnen am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun ein erweitertes Simulationsmodell für die Evolution des sozialen Lernens entwickelt. Sie zeigen, dass das Zusammenspiel von Lernen, Erinnern und Vergessen die Bedingungen, unter denen sich soziales Lernen entwickeln kann, maßgeblich erweitert.
Bisher gingen Forschende davon aus, dass Tiere und Menschen vor allem dann von sozialem Lernen profitieren, wenn sich ihr Lebensraum nur langsam verändert – die Informationen, die sie voneinander lernen, blieben dann über einen längeren Zeitraum hinweg aktuell und anwendbar. In dynamischen und sich schnell verändernden Lebensräumen hingegen, wären Innovationen nützlicher, denn vorhandene Informationen veralten rasch.
Die Forscherinnen Madeleine Ammar, Laurel Fogarty und Anne Kandler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben ein erweitertes Simulationsmodell für die Evolution des sozialen Lernens entwickelt, das berücksichtigt, wie sich Tiere im Laufe ihres Lebens an wichtige Informationen erinnern, wie sie diese vergessen und wie sie diese weitergeben. Sie fragten sich: Unter welchen Umständen lernen Individuen voneinander? Wann ist es von Vorteil, gelernte Informationen zu vergessen oder sie im Gedächtnis zu behalten? Wann ist es stattdessen vorteilhafter, neue Lösungswege zu entwickeln, innovativ zu sein?
Anschließend spielten die Forscherinnen im Simulationsmodell verschiedene Szenarien durch. So hat ein Individuum, das sich alles merken kann und nichts vergisst, zwar potentiell eine riesige Auswahl an möglichen Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten, entscheidet sich aber genau deshalb häufig für das Falsche. Individuen, die weniger nützliche Verhaltensweisen vergaßen, trafen oft bessere Entscheidungen. Vergessen kann also von Vorteil sein, ebenso wie soziales Lernen durch die Beobachtung anderer bei der Lösungsfindung.
Erinnerung und Vergessen formen soziales Lernen
Durch das Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen werden Informationen, die Tiere und Menschen im Laufe ihres Lebens sammeln, entweder als nützliche Werkzeuge und Verhaltensweisen im Gedächtnis “abgespeichert” – oder sie werden vergessen. “Diese passgenaue Auswahl an kulturellem Wissen ermöglichte es Individuen im Simulationsmodell, voneinander zu lernen und zu gedeihen, selbst in einem dynamischen Lebensraum mit häufigen Veränderungen", sagt Madeleine Ammar. "Das könnte erklären, warum soziales Lernen bei Tieren aus einer Vielzahl verschiedener Lebensräume so weit verbreitet ist.”
Die aktuelle Studie widerlegt also die vorherrschende Lehrmeinung, dass sich soziales Lernen nur unter relativ stabilen Umweltbedingungen entwickeln kann, während unter dynamischen Umweltbedingungen Innovation durch natürliche Selektion begünstigt wird. "Durch die Integration von Gedächtnis und Vergessen kann soziales Lernen unter einer breiteren Palette von Umweltbedingungen entstehen, als bisher für möglich gehalten wurde," sagt Laurel Fogarty.
"Das Zusammenspiel von Lernen, Erinnern und Vergessen erweitert die Bedingungen, unter denen sich soziales Lernen herausbilden kann", fasst Anne Kandler zusammen. "Unserer Studie zufolge haben sich Gedächtnis, Vergessen und soziales Lernen im Laufe ihrer Entwicklung gegenseitig beinflusst."