Wirksamkeit von Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19

Mit einem neuen mathematischen Modell lassen sich die Auswirkungen von Maßnahmen zur Eindämmung berechnen

4. März 2021

Wie kann man die Ausbreitung von Covid-19 vorhersagen? Können Eindämmungsmaßnahmen wie Schulschließungen oder Social Distancing wirksam die Gesamtzahl der Infektionen senken? Welche Maßnahmen können die Infektionszahlen zu jeder Zeit so weit unter einem Schwellenwert halten, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden wird und wie können wir eine begrenzte Anzahl Impfungen optimal verteilen? Der Mathematiker Vahid Bokharaie vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen hat ein Modell entwickelt, das sich leicht auf verschiedene Länder und Umstände anpassen lässt, geringe Kenntnis der Datenlage benötigt und mit begrenzten Rechenkapazitäten auskommt.

Bokharaies Modell geht von der Annahme aus, dass jede Person zu einer folgender vier Gruppen gehört: zu den Anfälligen (denjenigen, die noch nicht infiziert wurden und sich möglicherweise anstecken können), den Exponierten (die infiziert wurden, selbst aber noch nicht ansteckend sind), die Infektiösen (die das Virus weitergeben können) und die Genesenen (von denen angenommen wird, dass sie Immunität entwickelt haben). Da ein wichtiger Faktor für die Ausbreitung von Covid-19 die Altersstruktur der Bevölkerung ist, muss ein realistisches Modell jede dieser vier Gruppen in Altersgruppen aufschlüsseln.

Vorhersagen auf Basis begrenzter Informationen

Aber es ist komplizierter: “Die Altersstruktur ist ja üblicherweise bekannt; aber es kommen noch andere, schwerer greifbare Parameter ins Spiel,” erklärt Bokharaie: „Man muss zum Beispiel mit einbeziehen, wie häufig Kontakte innerhalb einer jeden Altersgruppe gepflegt werden und wie oft Menschen unterschiedlicher Altersklassen interagieren.“

Derartige zentrale Parameter können sich je nach geographischer Region und Kultur unterscheiden: In einer Gesellschaft, in der viele ältere Bürger in Senioren- oder Pflegeheimen leben, wird sich Covid-19 anders ausbreiten als in einer Gesellschaft, in der Ältere in der Regel bei ihrer Familie leben. Doch oft gibt es keine verlässlichen Daten über solche Faktoren. Eine der Stärken von Bokharaies Modell ist, dass es Kontaktraten und ähnliche Parameter auf Basis von wenig Information schätzen kann – unter Rückgriff auf verfügbare pandemische Daten.

Eindämmung, Immunisierung oder beides?

Laut Bokharaies Rechnungen würden insgesamt neun von zehn Deutschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, wenn keinerlei Eindämmungsmaßnahmen ergriffen würden. Nimmt man eine Sterblichkeitsrate von 0,6 Prozent an, bedeutete dies etwa 460 000 Todesfälle, was etwa einer Stadt der Größe Bochums entspricht. Vielleicht noch schwerer wiegt, dass es in diesem Szenario einen Zeitpunkt gäbe, zu dem fast zwölf Millionen Deutsche infiziert wären. Eine Überlastung des Gesundheitssystems – und damit eine höhere Sterblichkeitsrate – wäre damit nahezu garantiert.

Welche Vorkehrungen wären also zur Eindämmung des Virus geeignet? Bokharaies Modell berücksichtigt, dass jede Maßnahme sich anders auf die verschiedenen Altersgruppen auswirkt. Nimmt man an, dass Schließungen von Schulen und Universitäten vier von fünf Kontakten in der Altersgruppe unter 20 eliminieren würden, bekämen trotz dieser recht strikten Maßnahme noch mehr als vier von fünf Deutschen Covid-19. Selbstisolierung älterer Personen hätte einen ähnlichen Effekt.

Erst wenn man mehrere Maßnahmen kombiniert, sieht man einen deutlichen Rückgang der Infektionszahlen: Eine Kombination von Schulschließungen, Selbstisolation älterer Mitbürger und Social Distancing würde über vier von fünf Deutsche vor der Infektion bewahren. Ein kompletter Lockdown würde diese Zahl nur noch geringfügig erhöhen; es ist also fraglich, ob die psychologischen und wirtschaftlichen Kosten von diesem Nutzen aufgewogen würden. Für derartige Überlegungen können Entscheidungsträger Bokharaies Modell zur Bewertung der relativen Wirksamkeit verschiedener Strategien nutzen. Doch natürlich müssen langfristig ausgelegte Strategien dynamisch an die aktuelle Situation angepasst werden können. Bokharaies Modell erlaubt auch solche Simulationen, in denen die Eindämmungsstrategien im Laufe der Zeit geändert werden.

Was aber ist mit Impfungen? Sie werden in das Modell integriert, indem Geimpfte mit Personen gleichgesetzt werden, die durch die Krankheit selbst immunisiert wurden. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass etwa zwei von drei Deutschen immunisiert sein müssten, um Herdenimmunität zu erreichen. Wenn man aber Impfungen mit einer relativ lockeren Eindämmungsstrategie kombiniert, die die Kontakte innerhalb der Bevölkerung halbiert, wäre laut Bokharaies Simulationen ein geimpftes Bevölkerungsdrittel schon ausreichend!

Ein vielseitiges Werkzeug für Länder mit begrenzten Ressourcen

Verschieden strukturierte Populationen und verschiedene pandemische Ausgangslagen erfordern unterschiedliche Simulationen und letztlich auch andere Maßnahmen. „Die eigentliche Stärke des Modells liegt in seiner Vielseitigkeit“, sagt Vahid Bokharaie. „Es lässt sich auf unterschiedlichste Gesellschaften und Länder anpassen.” Man kann auch eine Unterscheidung zwischen symptomatischen und asymptomatischen Trägern des Virus ins Modell integrieren; und all das mit relativ geringer Rechenleistung. Bokharaies Methode kann also ein nützliches Werkzeug für Entscheidungsträger sein, insbesondere in Ländern, die nur über geringe Rechenkapazitäten verfügen oder nur begrenzt auf Expertise in mathematischer Epidemiologie zurückgreifen können.

 

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