Süße Algenpartikel widerstehen hungrigen Bakterien
Ein Algenzucker wird von Bakterien nicht vollständig abgebaut und könnte deutlich mehr Kohlenstoff speichern als bisher angenommen
Eher süß als salzig: Mikroalgen im Meer produzieren jede Menge Zucker während der Algenblüten. Diese enormen Mengen an Biomasse werden normalerweise durch marine Bakterien sehr schnell recycelt – ein Abbauprozess, der einen wichtigen Teil des globalen Kohlenstoffkreislaufs ausmacht. Besonders Zucker galt lange als leckere, leicht verdauliche Speise für hungrige Mikroben und deshalb als wenig geeignet für die natürliche Speicherung von Kohlenstoff. Forschende aus Bremen haben aber nun entdeckt: Es gibt einen Zucker in Algen, der dem mikrobiellen Abbau widersteht und so deutlich mehr Kohlenstoff in die Tiefsee transportieren könnte als bisher angenommen.
Ein wichtiger Weg zur Kohlenstoffbindung im Ozean ist das Wachstum, die Ansammlung und das Absinken des Phytoplanktons – einzelliger Mikroalgen, wie Kieselalgen. So wie Pflanzen an Land bindet das Phytoplankton den Kohlenstoff aus dem Kohlendioxid der Atmosphäre. Wenn sich viele Algenzellen ansammeln, werden sie schwer, beginnen zu sinken und nehmen den Kohlenstoff mit zum Ozeanboden.
Diese so genannte biologische Kohlenstoffpumpe macht etwa 70 Prozent des jährlichen globalen Kohlenstoff-Transports in die Tiefsee aus. Schätzungsweise 25 bis 40 Prozent des Kohlendioxids, das aus dem Verbrennen fossiler Brennstoffe durch den Menschen stammt, könnte durch diesen Prozess aus der Atmosphäre in Tiefen unter 1000 Meter transportiert worden sein. Dort kann Kohlenstoff für bis zu vier Jahrtausende gespeichert werden.
Schnelle Bakterien-Gemeinschaft
Doch wie der Prozess der Kohlenstoffpumpe auf molekularer Ebene funktioniert, ist bislang nur wenig verstanden – obwohl er so wichtig ist. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Forschungsgruppe Marine Glykobiologie des Max-Planck-Instituts für marine Mikrobiologie und des MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen untersuchen in dem Zusammenhang marine Polysaccharide, also Mehrfachzuckerverbindungen, die von Algen gebildet werden. Diese marinen Zucker sind strukturell sehr unterschiedliche Verbindungen und gehören zu den komplexesten Biomolekülen, die in der Natur zu finden sind.
Ein einzelnes Bakterium ist nicht in der Lage, die Zucker-Mischung allein zu verwerten. Hierfür ist ein ganzes Ensemble an Abbauwegen und Enzymen notwendig. In der Natur bewerkstelligt dies eine Gemeinschaft verschiedener Bakterien, die eng und sehr effizient zusammenarbeiten – ein perfekt eingespieltes Team. Diese Gemeinschaft funktioniert so gut, dass der Großteil der Mikroalgen aufgefuttert und verdaut wird, bevor sie sich ansammeln und ihren Weg in die Tiefsee antreten können. Sehr viel des gespeicherten Kohlenstoffs wird deshalb wieder in die Atmosphäre abgegeben.
Doch wie ist es dann möglich, dass dennoch riesige Mengen an Kohlenstoff in der Tiefsee landen? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Forschungsgruppe Marine Glykobiologie haben nun einen Bestandteil des Prozesses entdeckt, der möglicherweise großen Einfluss hat. „Wir haben ein sulfiertes Polysaccharid gefunden, das den Zucker Fucose enthält – kurz FCSP – und das der Bakteriengemeinschaft sehr lange widerstehen kann“, sagt Silvia Vidal-Melgosa, Erstautorin der Studie. „Diese Entdeckung kommt einem Paradigmenwechsel gleich; denn bisher war man davon ausgegangen, dass Polysaccharide schnell und komplett durch die Bakterien abgebaut werden.“
Diese Annahme ist der Grund dafür, dass Zucker bisher als mögliche Kohlenstoffsenke übersehen wurden. Doch auch Analysen der Bakteriengemeinschaft, die von Forschenden der Abteilung Molekulare Ökologie des Max-Planck-Instituts in Bremen sowie der Universität Greifswald durchgeführt wurden, zeigten, dass die Mikroben nur sehr wenig Enzyme besitzen, die diesen Zucker abbauen können.
In den Forschungsergebnissen spielen Partikel, die aus dem mikrobiell resistenten Zucker bestehen, eine wichtige Rolle. Während des Wachstums und beim Absterben setzen einzellige Kieselalgen große Mengen unbekannter, klebriger, mehrkettiger Zucker frei. Mit zunehmender Konzentration pappen diese Zuckerketten zusammen und bilden molekulare Netzwerke.
An diesen kleinen Zuckerpartikeln bleiben wiederum andere Partikel hängen, etwa andere Zuckerstückchen, Kieselalgenzellen oder Mineralien. Dadurch werden die Klumpen größer und schwerer und sinken schneller als einzelne Kieselalgenzellen. Die Klumpen benötigen dann mindestens zehn Tage, um eine Tiefe von 1000 Metern zu erreichen – oft auch viel länger. Das bedeutet, dass der klebrige Zuckerkern dem biologischen Abbau durch Bakterien so lange widerstehen muss, um die Klumpen zusammenzuhalten. Und dies, obwohl die Bakterien sehr aktiv und immer hungrig sind.
Neues Verfahren zur Zuckeranalyse entwickelt
Um das Partikel-Geflecht zu entwirren und mikrobiell resistente Zucker zu finden, testen die Bremer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ständig neue Verfahren. Das ist notwendig, da diese organischen Stoffgemische so komplex und die marinen Zucker fest eingebunden sind. Für die vorliegende Studie verwendeten die Forschenden eine Methode, die ursprünglich aus der Medizin- und der Pflanzenforschung stammt. Sie kombiniert die hohe Durchsatzkapazität von Microarrays mit der Genauigkeit von monoklonalen Antikörpern. Das bedeutet, dass die Wissenschaftler die Zuckermoleküle aus den Meerwasserproben extrahiert und in eine Maschine eingesetzt haben, die wie ein Drucker funktioniert. Nur, dass dieser „Drucker“ keine Tinte, sondern Moleküle verwendet. Die Moleküle werden einzeln auf Nitrocellulosepapier „gedruckt", den Microarray.
Ein Microarray ähnelt einem Mikrochip; klein wie ein Fingernagel kann er Hunderte von Proben enthalten. Sind die einzelnen Zuckermoleküle auf den Mikroarray aufgetragen, können die enthaltenen Zucker analysiert werden. Dies wurde mit monoklonalen Antikörpern gemacht. Einzelne Antikörper werden zu den Zuckermolekülen auf dem Array gegeben, und da sie jeweils mit nur einem spezifischen Zucker reagieren, können die Forschenden sehen, welche Zucker in der Probe enthalten sind.
„Diese neue Anwendung des Verfahrens ermöglichte es uns, das Schicksal mehrerer verschiedener Zuckerverbindungen gleichzeitig während der Algenblüte zu beobachten“, sagt Silvia Vidal-Melgosa. „Dabei fanden wir heraus, dass sich der mehrkettige Zucker Fucan, der Fucose enthält, anreichert, während die anderen Polysaccharide allesamt abgebaut werden und keinen Kohlenstoff speichern.“ Diese Studie zeige, dass die neue Anwendung dieser Methode sehr sinnvoll sei. „Vor allem komplexe Kohlenhydrate wurden in der Umwelt bisher nicht mit dieser hohen molekularen Auflösung gemessen“, sagt Jan-Hendrik Hehemann, Leiter der Gruppe „Marine Glykobiologie“ und Betreuer der Studie. „Folglich ist dies der erste Umwelt-Datensatz aus der Glykomik, also der Zucker-Strukturanalyse, und damit die Referenz für zukünftige Studien über mikrobiellen Kohlenhydratabbau.“
Suche nach Zuckerpartikeln in der Tiefsee
Die Entdeckung von stabilem und klebrigem FCSP in Kieselalgen rückt ein bisher nicht charakterisiertes Polysaccharid in den Fokus, das zur Partikelbildung und damit möglicherweise zur Kohlenstoffbindung im Ozean beiträgt. „Ein nächster Schritt in der weiteren Forschung ist es herauszufinden, ob diese Zuckerpartikel auch in der Tiefsee zu finden sind“, sagt Hehemann. „Das würde unterstreichen, dass der Zucker dauerhaft stabil und somit ein wichtiger Teil der biologischen Pumpe ist.“
Darüber hinaus weisen die beobachtete Resistenz gegenüber bakteriellem Abbau sowie die Struktur des Diatomeen-Zuckers FCSP auf besondere biologische Funktionen hin. „Durch seine Stabilität gegenüber dem Abbau kann FCSP, das die Kieselalgenzellen umhüllt, als eine Barriere dienen, die die Zellwand vor Mikroben und deren Verdauungsenzymen schützt“, sagt Hehemann. Und zu guter Letzt eine weitere offene Frage, die es zu lösen gilt: Die analysierten Zuckerpartikel stammen aus Wasserproben, die vor Helgoland in der Nordsee genommen wurden. Gibt es sie auch in den Meeren und Ozeanen in anderen Teilen der Welt?