Die Vermessung der tRNA-Welt
Forschende quantifizieren mit neuer Methode Transfer-RNAs
Transfer-RNAs (tRNAs) bringen spezifische Aminosäuren während der Übersetzung von Boten-RNA in Proteine an Ribosomen. Die Menge an tRNAs hat daher einen tiefgreifenden Einfluss auf die Zellphysiologie. Die Messung der Menge jeder tRNA in Zellen wurde bislang durch technische Herausforderungen limitiert. Forscher am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried haben diese Grenzen nun mithilfe der mim-tRNAseq überwunden, einer Methode, die zur Quantifizierung von tRNAs in jedem Organismus verwendet werden kann. Die Methode wird dazu beitragen, das Verständnis der tRNA-Regulation in gesunden und kranken Lebewesen zu verbessern.
Eine Zelle enthält mehrere hunderttausend tRNA-Moleküle, von denen jedes aus nur 70 bis 90 Nukleotiden besteht. tRNAs sind zu einem kleeblattartigen Muster gefaltet und tragen an einem Ende eine der zwanzig Aminosäuren, die als Proteinbausteine dienen. Das andere Ende der Moleküle interagiert bei der Translation mit dem spezifischen Codon dieser Aminosäure an die Boten-RNA. Obwohl es nur 61 Codons für die zwanzig Aminosäuren gibt, können Zellen verschiedener Organismen Hunderte von einzigartigen tRNA-Molekülen enthalten, von denen sich einige nur durch ein einziges Nukleotid unterscheiden. Viele Nukleotide in tRNAs sind außerdem mit chemischen Modifikationen versehen, die den tRNAs helfen, sich zu falten oder das richtige Codon zu binden.
Die Mengen einzelner tRNAs werden in verschiedenen Geweben und während der Entwicklung dynamisch reguliert. Ausserdem werden tRNA-Defekte mit neurologischen Erkrankungen und Krebs in Verbindung gebracht. Die molekularen Ursachen dieser Zusammenhänge sind nach wie vor unklar, denn die Quantifizierung der Mengen und die vorhandenen Modifikationen von tRNAs in Zellen war lange Zeit eine Herausforderung. Das Team von Danny Nedialkova am MPI für Biochemie hat nun mim-tRNAseq entwickelt, eine Methode, die die Menge und den Modifikationsstatus verschiedener tRNAs in Zellen genau erfasst.
Hindernisse und Lösungen bei der Modifikation
Um die Mengen mehrerer RNAs gleichzeitig zu messen, verwenden Wissenschaftler ein Enzym namens Reverse Transkriptase, um zunächst RNA in DNA umzuschreiben. Millionen dieser DNA-Kopien können dann parallel durch Hochdurchsatz-Sequenzierung quantifiziert werden. Das Umschreiben von tRNAs in DNA war bisher äußerst anspruchsvoll, da viele tRNA-Modifikationen die reverse Transkriptase so blockieren, dass sie keine DNA mehr synthetisieren kann.
"Viele Forscher haben bereits elegante Lösungen für dieses Problem vorgeschlagen, aber sie alle beheben nur einen Bruchteil der Modifikationsblockaden in tRNAs", erklärt Danny Nedialkova, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Biochemie. "Uns ist aufgefallen, dass eine bestimmte Reverse Transkriptase viel besser in der Lage zu sein scheint, modifizierte tRNA-Stellen abzulesen. Durch die Optimierung der Reaktionsbedingungen konnten wir die Effizienz des Enzyms deutlich verbessern, bis es in der Lage war, fast alle tRNA-Modifikationsstellen abzulesen", fügt Nedialkova hinzu. Dadurch war es möglich, DNA-Bibliotheken aus tRNA-Kopien in voller Länge zu erstellen und diese für die Hochdurchsatz-Sequenzierung zu nutzen.
mim-tRNAseq-Berechnungs-Software
Auch die Analyse der daraus gewonnenen Sequenzierdaten stellte eine große Herausforderung dar. "Wir haben zwei große Themen identifiziert: Das erste ist die große Sequenzähnlichkeit zwischen verschiedenen tRNA-Transkripten", erklärt Andrew Behrens, Doktorand in Nedialkovas Gruppe und Erstautor der Arbeit. "Das zweite Thema ergibt sich aus der Tatsache, dass bei der reversen Transkription an vielen modifizierten Stellen ein falsches Nukleotid eingeführt wird. Beides macht es extrem schwierig, jeden Abschnitt der DNA dem tRNA-Molekül zuzuordnen, aus dem er stammt", fügt Behrens hinzu.
Das Team begegnete diesen Problemen mit neuartigen Berechnungsansätzen, einschließlich der Verwendung von sogenannten Modifikations-Annotation, um ein genaues „Read-Alignment“ zu ermöglichen. Das entwickelte, umfassende Programm ist frei verfügbar und ermöglicht das Alignment, die Analyse und die Visualisierung von tRNA-Sequenzierungsdaten. Forscher können mit mim-tRNAseq nicht nur die tRNA-Häufigkeit messen, sondern auch tRNA-Modifikationen kartieren und quantifizieren, an denen es, durch die reverse Transkriptase induziert, es zu Nukleotid-Fehlinkorportationen kam. "mim-tRNAseq eröffnet uns unzählige Möglichkeiten für die Zukunft", sagt Nedialkova. "Wir erwarten, dass es uns und anderen helfen wird, viele offene Fragen zur tRNA-Biologie in gesunden und kranken Organismen zu klären."