Die Ordnung des Lebens

Ein neues Modell, das die Organisation von Organismen beschreibt, könnte helfen, biologische Prozesse besser zu verstehen

Auf den ersten Blick hat ein Wolfsrudel wenig mit Salatsauce zu tun. Doch ein Team um Ramin Golestanian, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, hat nun ein Modell entwickelt, das eine Verbindung zwischen der Bewegung von Raub- und Beutetieren sowie der Entmischung von Öl und Essig herstellt. Sie erweiterten eine Formel, die bislang nur für unbelebte Materie galt. Damit lassen sich jetzt neben Raub- und Beutetieren auch andere lebende Systeme beschreiben, wie etwa verschiedene Enzyme oder Zellen, die sich selbst organisieren.

Ordnung ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen: Wenn man mit einem Wolfsrudel mitlaufen könnte, das Jagd auf Rotwild macht, erschienen die Bewegungen ungeordnet. Betrachtet man die Hatz aber aus der Vogelperspektive und über einen größeren Zeitraum hinweg, werden im Bewegungsverhalten der Tiere Muster sichtbar. Die Physik betrachtet ein solches Verhalten nun als geordnet. Doch wie entsteht diese Ordnung? Die Abteilung „Physik lebender Materie“ von Ramin Golestanian widmet sich dieser Frage und erforscht, welchen physikalischen Regeln die Bewegung in lebenden beziehungsweise aktiven Systemen unterliegt. Sein Ziel ist es, möglichst universelle Merkmale aktiver, lebender Materie zu erfassen. Denn darunter fallen nicht nur größere Organismen wie Raub- und Beutetiere, sondern auch Bakterien, Enzyme, Motorproteine oder künstliche Systeme wie Mikroroboter.  „Wenn wir eine Gruppe solcher aktiven Systeme über große Entfernungen und lange Zeiträume beschreiben, verlieren die spezifischen Details der Systeme an Bedeutung und letztlich wird deren Gesamtverteilung im Raum zum entscheidenden Merkmal“,  erläutert Ramin Golestanian.

Vom unbelebten zum lebenden System

Nun gelang seinem Göttinger Team ein Durchbruch bei der Beschreibung lebender Materie. Dazu starteten Suropriya Saha, Jaime Agudo-Canalejo und Ramin Golestanian mit der bekannten Beschreibung des Verhaltens unbelebter Materie und erweiterten diese entscheidend. Dabei kam es vor allem darauf an, den grundlegenden Unterschied zwischen lebender Materie und unbelebter Materie zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur unbelebten, passiven Materie, kann sich lebende, aktive Materie aus eigener Kraft bewegen. Wie sich unbelebte Gemische wie etwa eine Emulsion aus Öl und Wasser trennt, beschreiben Physiker durch die Cahn-Hilliard-Gleichung.

Die in den 1950er-Jahren entwickelte Charakterisierung gilt als das Standardmodell der Phasentrennung. Es basiert auf dem Prinzip der Reziprozität: Wie du mir, so ich dir. So stößt Öl Wasser genauso ab, wie Wasser Öl. Für lebende Materie oder aktive Systeme ist das aber nicht immer der Fall. Denn ein Raubtier verfolgt seine Beute, während die Beute versucht dem Raubtier zu entkommen. Erst vor kurzem zeigte sich, dass es auch bei der Bewegung kleinster Systeme wie etwa von Enzymen nicht-reziprokes, also aktives Verhalten gibt. So können sich Enzymen gezielt in einzelnen Zellarealen konzentrieren, was bei vielen biologischen Prozessen notwendig ist. Nach dieser Entdeckung stellten sich die Göttinger Forscherinnen und Forscher die Fragen, wie sich große Ansammlungen verschiedener Enzyme verhalten. Würden sie sich miteinander vermischen oder zu Gruppen zusammenfinden? Würden neue und unvorhergesehene Eigenschaften entstehen? Mit dem Ziel, diese Fragen zu beantworten, machte sich das Forscherteam an die Arbeit.

Plötzlich entstehen Wellen

Die erste Aufgabe bestand darin, die Cahn-Hilliard-Gleichung so zu verändern, dass sie nicht-reziproke Wechselwirkungen einbezieht. Da die Gleichung nicht-lebende Systeme beschreibt, ist die Reziprozität passiver Interaktionen tief in ihrer Struktur verankert. So endet jeder von ihr beschriebene Prozess im thermodynamischen Gleichgewicht, das heißt, dass sich alle Beteiligten schließlich in einem Ruhezustand befinden. Leben findet aber außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts statt. Denn lebende Systeme verharren nicht im Ruhezustand, sondern wenden Energie auf, um etwas zu erreichen, zum Beispiel die eigene Vermehrung. Dieses Verhalten berücksichtigen Suropriya Saha und ihre Kollegen, indem sie in der Cahn-Hilliard-Gleichung einen Parameter einführten, der nicht-reziproke Aktivitäten charakterisiert. Auf diese Weise können sie nun auch Vorgänge beschreiben, die sich beliebig stark von passiven Prozessen unterscheiden.

Wie sich die Veränderung der Gleichung auswirkt, studierten Saha und ihre Kollegen mit Hilfe von Computersimulationen. „Erstaunlicherweise führt schon eine minimale Nicht-Reziprozität zu radikalen Abweichungen vom Verhalten passiver Systeme“, so Saha. So beobachtete die Forscherin in einem Gemisch aus Partikeln zweier Arten die Entstehung von Wanderwellen. Bei diesem Phänomen jagen Bänder der einen Komponente den Bändern der anderen Komponente nach, was zu einem Muster von sich bewegenden Streifen führt. Außerdem können sich in den Partikel-Gemischen komplexe Gitter bilden, in denen kleine Ansammlungen der einen Komponente Gruppen der anderen Komponente verfolgen. Die Göttinger Forscher hoffen mit ihrer Arbeit, sowohl in der Physik als auch in der Biologie zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen. Das neue Modell kann beispielsweise das Verhalten verschiedener Zellen, Bakterien oder Enzyme beschreiben und vorhersagen „Damit haben wir einem alten Hund neue Tricks beigebracht“, sagt Ramin Golestanian. „Unsere Forschung zeigt, dass die Physik nicht nur zu unserem Verständnis der Biologie beiträgt, sondern auch, dass die Herausforderungen des Erforschens lebender Materie neue Wege für die physikalische Grundlagenforschung eröffnen“.

AK

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