Frühwarnsystem auf vier Beinen

Ziegen sind in vielen Teilen der Welt wichtige Lieferanten von Milch, Fleisch und Fellen. Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, hat mit den genügsamen Tieren aber noch ganz andere Pläne: Er möchte sie zur Vorhersage von Vulkanausbrüchen einsetzen.

Am 18. Juli des Jahres 387 vor Christus lagen die Bewohner Roms noch friedlich in ihren Betten, als sich die Gefahr aus dem Norden näherte. Die Kelten marschierten auf die Stadt zu und drohten sie zu vernichten. Lediglich ein paar Gänse, so die Legende, seien damals wach gewesen. Sie lebten auf dem Kapitolshügel, in einem der Göttin Juno geweihten Tempel. Mit ihrem lauten Geschnatter sollen sie die Schlafenden geweckt und so das Kapitol gerettet haben.

Heute ist von den wachsamen Gänsen in jedem Rom-Reiseführer zu lesen. Dabei ist diese Geschichte keineswegs das einzige Beispiel dafür, dass Tiere drohendes Unheil prophezeien. Der römische Naturforscher Plinius der Ältere, der beim Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 nach Christus ums Leben kam, berichtet davon, dass Vögel vor Erdbeben unruhig werden. Auch in der Neuzeit beobachtete man immer wieder, dass sich Tiere vor Naturkatastrophen merkwürdig verhalten – und zwar so unterschiedliche Arten wie Elefanten, Hunde, Schlangen, Kröten, Fische, Bienen und sogar Ameisen.

Im Februar 1975 fand man nahe der chinesischen Metropole Haicheng etliche Schlangen, die mitten im Winter aus ihren Verstecken gekrochen und im Schnee erfroren waren. Kurz darauf wurde die Millionenstadt von Erdstößen der Stärke 7,3 erschüttert. Nicht zuletzt wegen des abnormen Verhaltens der Reptilien hatte man die Einwohner rechtzeitig evakuiert. Im März 2009 verschwanden am Ruffino-See in den italienischen Abruzzen plötzlich mitten in der Laichsaison die Erdkröten, die sonst um diese Zeit zuhauf unterwegs waren: Wenige Tage später zerstörte ein Erdbeben die nahe gelegene Stadt L’Aquila.

Wasserbüffel und Hühner als Lebensretter

Auch vor dem verheerenden Seebeben des Jahres 2004 verhielten sich viele Tiere anders als sonst. So spürten etwa Elefanten in Sri Lanka die Bedrohung, lange bevor der Tsunami auf die Küste traf, und flohen ins Landesinnere. Menschen, die ihnen auf der Flucht instinktiv gefolgt waren, bewahrte das vor dem Tod. „Wenn Tiere verrückt spielen, lauf weg vom Meer, und geh ins Hochland“, heißt es sinngemäß in einem indonesischen Kinderlied. Es stammt von der Insel Simeuluë vor der Küste Sumatras, dicht am Epizentrum des Bebens. Weil die Bewohner von ihren Vorfahren gelernt hatten, das Verhalten von Hühnern und Wasserbüffeln richtig zu deuten, konnten sie sich vor der Flutwelle in Sicherheit bringen. Trotz gewaltiger Sachschäden gab es auf Simeuluë nur wenige Tote.

„Es existieren viele Anekdoten, dass Tiere Katastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche vorhersehen können, aber kaum systematische Studien“, sagt Martin Wikelski, Direktor am Radolfzeller Max-Planck-Institut für Ornithologie und Professor an der Universität Konstanz. „Als Wissenschaftler hat man es auf diesem Gebiet allerdings auch nicht leicht“, klagt er. „Man wird schnell als so eine Art Wünschelrutengänger abgetan.“

Wikelski, der im Jahr 2008 von der Universität Princeton an den Bodensee wechselte und seither die traditionsreiche Vogelwarte Radolfzell leitet, lässt sich davon nicht abschrecken. Er möchte testen, ob sich Tiere als biologische Frühwarnsysteme für Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche einsetzen lassen. Seine Idee hat er sogar schon patentieren lassen: DAMN (Disaster Alert Mediation using Nature) heißt das Projekt, das er mit Unterstützung der Technologietransfer-Gesellschaft Max-Planck-Innovation beim Europäischen Patentamt eingereicht hat. Versicherungskonzerne haben bereits ihr Interesse bekundet.

Tierbeobachtung rund um die Uhr

Auf dieses ungewöhnliche Vorhaben zu kommen war für den passionierten Verhaltensforscher nicht so abwegig. Wikelski zeichnet Tierwanderungen und -verhalten rund um den Globus auf. Dabei hat er nicht nur Zugvögel, sondern ganz unterschiedliche Wildtiere im Blick. Mithilfe von Sendern verfolgt er Störche auf ihrem Weg von Europa nach Afrika, Monarchfalter auf der Reise von Kanada nach Mexiko oder die Streifzüge von Samen verbreitenden Nagetieren im südamerikanischen Regenwald.

Die kleinen Fahrtenschreiber, die der Wissenschaftler dafür einsetzt, können nicht nur die exakten GPS-Koordinaten der Träger wiedergeben, sondern auch ihre Beschleunigung in verschiedene Raumrichtungen messen. Das erlaubt den Forschern Rückschlüsse auf das Verhalten des Tieres.

„Mit dieser Technik können wir rund um die Uhr beobachten“, sagt Martin Wikelski. Der Max-Planck-Direktor sieht darin eine einzigartige Chance, die er nutzen möchte: „Wenn wir in Gegenden, die von Naturkatastrophen bedroht sind, verschiedene Tiere mit Sendern ausstatten und ihr Verhalten aufzeichnen, lässt sich im Nachhinein herausfinden, welche Tiere etwa einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben vorausgesagt hätten.“ In Zukunft könnten die Forscher diese Kandidaten dann als Frühwarnsystem einsetzen.

Freilandforschung am Fuß des Vulkans

Eine visionäre Idee. Aber war sie auch praxistauglich? Um das zu zeigen, starteten Wikelski und seine Kollegen im April 2011 einen ungewöhnlichen Feldversuch. „Wenn wir untersuchen wollen, wie sich Tiere vor einem Vulkanausbruch oder einem Erdbeben verhalten, können wir das ja nicht im Labor nachstellen“, erklärt der Forscher. „Wir müssen tatsächlich darauf warten, dass ein solches Ereignis stattfindet.“ Das kann mitunter lange dauern. Vergleichsweise gute Chancen hatten die Radolfzeller Wissenschaftler auf Sizilien.

Der 3352 Meter hohe Ätna, der die Ostküste der Insel überragt, ist der aktivste Vulkan Europas. Die meisten Eruptionen betreffen nur die unmittelbare Umgebung des Kraters; sie stellen für Menschen und Tiere in der Nähe keine Bedrohung dar. Immer wieder jedoch kommt es zu heftigen Ausbrüchen, bei denen der Vulkan Aschewolken und Gesteinsbrocken kilometerweit in die Atmosphäre speit und Lavaströme sich den Weg ins Tal bahnen. Diese sogenannten Paroxysmen werden häufig von gewaltigen Explosionen begleitet.

Obwohl der Ätna zu den am besten erforschten Vulkanen der Welt zählt, gelingt es bisher nicht, solche Ereignisse längerfristig und zuverlässig vorherzusagen – vor allem, was die Stärke des Ausbruchs betrifft. Martin Wikelski und seine Kollegen wollten daher herausfinden, ob es Tiere gibt, die das besser können.

Inspiration von den alten Geschichtsschreibern

Bei der Suche nach geeigneten Kandidaten ließen sich die Wissenschaftler nicht zuletzt von den antiken Mythen inspirieren: „Ursprünglich dachten wir tatsächlich an Gänse“, erinnert sich Wikelski. „Wir haben dann vor Ort die Einheimischen befragt, die mit ihren Tieren seit Generationen am Fuß des Ätna leben. Die meinten dann: Vergesst die Gänse, und nehmt lieber Ziegen!“ Die Menschen in der Region kannten ihre Tiere genau und wussten deshalb, dass sie ein feines Gespür für bevorstehende Naturereignisse haben. „Ein Hirte stellte uns dann auch prompt acht Ziegen zur Verfügung“, berichtet derVerhaltensforscher.

Die meiste Zeit leben die Tiere in kleinen Herden an den Hängen des Vulkans. Nur zweimal im Jahr werden sie ins Tal getrieben. Eine solche Gelegenheit nutzten die Wissenschaftler, um die Ziegen statt mit den sonst üblichen Glöckchen mit Halsbandsendern auszustatten. Die 390 Gramm schweren Geräte, die Wikelski eigens für das Projekt anfertigen ließ, zeichnen sowohl die genaue GPS-Position auf als auch die Beschleunigung in drei Achsen und erlauben es, die Daten über ein lokales Funknetz auszulesen. Zu Hause an ihrem Rechner können die Forscher darauf zugreifen, um mithilfe spezieller Software die Bewegungsmuster und das Verhalten der Ziegen auf dem Bildschirm sichtbar machen.

Martin Wikelski zoomt eine Umgebungskarte des Ätna heran. Die Aufnahme zeigt die Nordhänge des Vulkans, am linken unteren Rand ist das Städtchen Randazzo verzeichnet. „Goat 1910“ steht oben links. Ein Gewirr von pinkfarbenen Linien gibt an, wohin die Ziege namens „1910“ gelaufen ist. Per Mausklick lassen sich zu jeder Linie Datum und Uhrzeit ablesen. „Dank der Beschleunigungsdaten kennen wir nicht nur die Wege, welche die Ziege zurückgelegt, sondern können auch rekonstruieren, was sie gemacht hat“, erklärt Wikelski. Ob die Tiere schlafen, fressen, rennen oder Bocksprünge über die Lavafelsen machen – jede dieser Verhaltensweisen ergibt ein charakteristisches Beschleunigungsmuster.

Kleine Explosionen vor den großen Knall

„Da!“ Martin Wikelski zeigt auf ein unruhiges Auf und Ab von dünnen blauen Linien, das über die gesamte Breite des Monitors läuft. Die Grafik bezieht sich auf Anfang Januar 2012. An einer Stelle sind die Linien so lang, dass sie den oberen Rand des Bildes erreichen, danach nehmen die Ausschläge wieder ab. „Hier werden die Ziegen plötzlich sehr aktiv“, deutet Wikelski das Muster. „Irgendetwas hatte sie beunruhigt.“ Zufall? Oder vielleicht ein streunender Hund, der sich in die Nähe der Tiere verirrt hatte? Das schloss Wikelski von vornherein aus: „Die besenderten Tiere sind nicht gemeinsam im Trupp unterwegs. Wenn trotzdem fast alle gleichzeitig reagieren, muss da wirklich etwas los sein.“

Was das war, enthüllten die Daten des Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia. Das Institut betreibt 26 automatisierte Messstationen rund um den Ätna; zusätzlich sind Wissenschaftler regelmäßig im Gelände, um die vulkanische Aktivität aufzuzeichnen. Die Zahl der Ausbrüche, Beginn und Dauer eines Ausbruchs sowie sein Verlauf sind daher bestens belegt. Die Radolfzeller Forscher konnten somit nachweisen, dass am 4. Januar 2012 gegen 22.20 Uhr eine heftige Eruption ihren Ausgang nahm – rund sechs Stunden nachdem die Ziegen so ungewöhnlich aktiv gewesen waren.

Die Seismologen hatten zwar am Morgen des 4. Januar mithilfe von Infraschalldetektoren bereits kleinere Explosionen registriert, sie konnten die Stärke des Ausbruchs aber nicht vorhersagen. Bis zum Mittag des folgenden Tages schossen Lavafontänen aus dem Krater, die Aschesäule erreichte eine Höhe von mehr als sieben Kilometern. „Dieses Ereignis hätten wir mit unseren Daten voraussagen können“, sagt Martin Wikelski.

Um ihre Ergebnisse statistisch abzusichern, führten die Wissenschaftler ihre Studie über zwei Jahre fort. Während dieser Zeit registrierten sie 27 Ausbrüche, davon sieben große Paroxysmen. Insgesamt waren siebzehn Ziegen und vier Schafe an der Studie beteiligt. Sie bestätigte, dass Wikelskis Idee tatsächlich funktionierte: Immer wenn ein größerer Ausbruch bevorstand, waren die Tiere bereits Stunden vorher unruhig, liefen auf und ab oder flüchteten unter Büsche und Bäume, wenn sich die Möglichkeit dazu bot.

Schwellenwerte, um die Gefahr zu erkennen

Indem die Forscher die Bewegungen der Tiere rund um die Uhr aufzeichneten, lernten sie, dieses Verhalten richtig zu deuten. Sie registrierten, wie stark der Aktivitätslevel unter normalen Umständen variierte und wie er sich vor einem großen Ausbruch steigerte. Mithilfe statistischer Methoden konnten sie die Variation in Zahlen fassen und für die verschiedenen Tages- und Nachtzeiten eindeutige Schwellenwerte festlegen. Überstieg der Aktivitätslevel einen solchen kritischen Wert, war dies ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Ausbruch bevorstand. Die Wissenschaftler hätten auf diese Weise jeden der sieben großen Ausbrüche zuverlässig prophezeien können. Kleinere Eruptionen hatten auf die Aktivität der Tiere dagegen keinen Einfluss.

Wie aber merken die Ziegen die drohende Gefahr – haben sie so etwas wie einen sechsten Sinn? „Wie sie das schaffen, wissen wir noch nicht“, sagt Martin Wikelski. „Möglicherweise nehmen sie den Geruch der aufsteigenden Magma wahr, der durch den Boden entweicht.“ Der glühenden Gesteinsschmelze entströmen Gase, die unter anderem Schwefeldioxid und Schwefelwasserstoff enthalten.

Doch auch wenn der Mechanismus bisher noch nicht geklärt ist – dem technischen Equipment, das Vulkanologen derzeit für Frühdiagnosen zur Verfügung steht, scheinen die Tiere überlegen zu sein. Denn die Instrumente erfassen eine drohende Eruption erst kurz vorher. Für eine Evakuierung bleibt dann nur wenig Zeit. Mit der Technik lässt sich auch nicht genau vorhersagen, wie heftig ein Ausbruch ausfallen wird.

In Zukunft also ein „Ziegendetektor“ für Vulkanausbrüche? „Dazu müssen wir als Nächstes herausfinden ob das, was am Ätna klappt, auch in anderen Gegenden der Welt funktioniert“, sagt Wikelski. „Für ein effektives Frühwarnsystem ist es außerdem wichtig, das Verhalten rund um die Uhr in Echtzeit aufzuzeichnen, und zwar auch dann, wenn sich das Tier gerade in einem Funkloch befindet.“

Mit dem Projekt Icarus (International Cooperation for Animal Research Using Space), das der Radolfzeller Wissenschaftler ins Leben gerufen hat, könnte eine solche globale Beobachtung deutlich einfacher werden – auch in unbewohnten Gegenden, wo es kein Handynetz gibt. Ziel von ICARUS ist es, aus dem All die Bewegungen von Tieren weltweit aufzuzeichnen. Das Projekt wird seit März 2013 vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gefördert und von der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos unterstützt.

Empfangsstation im Weltraum

Anfang 2017 werden Astronauten eigens dafür eine Empfangsantenne an der Internationalen Raumstation ISS installieren. Sie ist darauf ausgelegt, die Daten von Zigtausenden Sendern zu empfangen; ein bordeigenes Rechnersystem übernimmt die Auswertung. Die Max-Planck-Gesellschaft finanziert seit Dezember 2013 die Miniaturisierung der Icarus-Funkchips. Damit können auch kleine Tiere überwacht werden. Mitte 2018 soll das System dann starten.

Allerdings kann Icarus wegen der Flugbahn der ISS die kleinen Sender nur ein- bis viermal pro Tag auslesen. Daher eignet es sich in seiner jetzigen Form noch nicht als Frühwarnsystem. In Zukunft könnten zusätzliche Kleinsatelliten mit dem entsprechenden Equipment eine lückenlose Beobachtung ermöglichen.

Mit solch ausgefeilter Technik, davon ist Martin Wikelski überzeugt, könnten Wissenschaftler in Zukunft nicht nur Ziegen am Ätna verfolgen, sondern weltweit auch nach weiteren Tieren fahnden, die Vulkanausbrüche oder Erdbeben anzeigen können. Dabei setzt der Max-Planck-Forscher aber nicht auf Hightech allein. Er will sich weiterhin auch von traditionellen Überlieferungen leiten lassen: Ganz oben auf seiner Liste vielversprechender Kandidaten stehen deshalb schon jetzt die Hühner und Wasserbüffel von Simeuluë.

EM / HR

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