Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Die Architektur des Sicherheitsrechts in der globalen Risikogesellschaft
Das Sicherheitsdogma der Risikogesellschaft
Terrorismus, organisierte Kriminalität, Cybercrime, Wirtschaftskriminalität und andere komplexe Verbrechensformen dominieren heute nicht nur Medien und politische Debatten. Sie haben auch zu einem weltweiten Paradigmenwechsel im Bereich der Kriminalitätskontrolle geführt, der in der Öffentlichkeit und in der Politik bisher noch viel zu wenig beachtet wurde: Das klassische, auf die Ahndung vergangener Taten gerichtete Strafrecht wird immer stärker auf vorbeugende Aufgaben ausgerichtet und durch sonstige präventive Rechtsregime ergänzt.
Dieser fundamentale Wandel beruht nicht nur auf tatsächlichen Bedrohungen. Eine große Rolle bei dieser Entwicklung spielen auch die zunehmende Verbrechensfurcht der Bevölkerung und die Reaktionen der Politik – obwohl beide oft in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Bedrohungen stehen.
Die Rechtspolitik hat sich dadurch stark verändert: In der Politik bestimmen heute weniger die klassischen Fragen von Schuld und Strafe die Diskurse der Kriminalitätskontrolle als vielmehr Begriffe wie Risiko und Gefahr einerseits sowie Prävention und Sicherheit andererseits. Das neue Ziel der Kriminalpolitik besteht dabei vor allem darin, Sicherheit durch eine frühzeitige Intervention zu gewährleisten. Dieses Konzept bietet neue Ansätze zur Kriminalitätskontrolle. Es birgt aber auch die Gefahr immer intensiverer Eingriffe in die Freiheit der Bürger, da in der modernen Gesellschaft Risiken allgegenwärtig sind und die Prognose von Gefahren weite Ermessensspielräume für staatliche Eingriffe eröffnet. In wichtigen Bereichen verändert sich das klassische, repressive Strafrecht dadurch nicht nur selbst zu einem stark präventiv ausgerichteten Instrument, sondern wird Teil eines allgemeinen Sicherheitsrechts.
Elemente der neuen Sicherheitsarchitektur
Innerhalb des Strafrechts zeigt sich diese Entwicklung deutlich in der Kriminalisierung von Risikohandlungen. Die in den letzten Jahren stark ausgeweiteten „Vorbereitungsdelikte“ verschieben die Strafbarkeit ins Vorfeld der Tat und bekommen dadurch stark vorbeugende (das heißt präventive) Funktionen. Ihre Tatbestandsumschreibungen ersetzen dabei objektive Schädigungen durch subjektive kriminelle Absichten des Täters. Im Terrorismusstrafrecht manifestiert sich diese Entwicklung vor allem in der Kriminalisierung von zeitlich frühen (oft alltäglichen) Vorbereitungshandlungen, die in deliktischer Absicht ausgeführt werden. Beispiele sind die Kriminalisierung der versuchten „Ausreise“ zum Zweck der terroristischen Ausbildung sowie des „Sammelns“ von Vermögenswerten, um terroristische Straftaten zu unterstützen.
Außerhalb des Strafrechts manifestiert sich der Ausbau der präventiven Kriminalitätskontrolle in vielen Bereichen noch sehr viel deutlicher: Verwaltungsstrafrecht, Polizeirecht, Geheimdienstrecht, Ausländerrecht, Sanktionsrecht der UN und der EU, Recht der bewaffneten Konflikte, Zivilrecht und private Compliance-Regelungen gewinnen mit ihrer präventiven Ausrichtung für die Kriminalpolitik zunehmend an Bedeutung.
Neue Chancen und Risiken der Kriminalpolitik
Diese – weltweit zu beobachtenden – Veränderungen erweitern die Handlungsoptionen der Sicherheitsbehörden im Bereich der Kriminalitätskontrolle beträchtlich:
- Das präventive Strafrecht schafft mit seinen Vorfelddelikten eine rechtssichere Grundlage für frühe Ermittlungsmaßnahmen und einen Freiheitsentzug schon im Vorfeld eines Schadensereignisses.
- Das Polizeirecht ermöglicht rein präventive Eingriffe, die keine begangene Straftat verlangen, sondern eine zukunftsorientierte Prognoseentscheidung ausreichen lassen.
- Das Geheimdienstrecht erlaubt weitgehende Maßnahmen der Informationsgewinnung und der Überwachung mit neuen Algorithmen und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz.
- Das Recht der bewaffneten Konflikte rechtfertigt im Bereich der Kriminalitäts„bekämpfung“ in einzelnen Rechtsordnungen transnational durchsetzbare Maßnahmen bis hin zu gezielten Tötungen einschließlich gravierender Kollateralschäden.
Hinzu kommen weitere nichtstrafrechtliche Ansätze wie die geheimdienstähnliche Geldwäschekontrolle, die zivilrechtliche Einziehung von Straftatgewinnen, die Mega-Geldbußen des Ordnungswidrigkeitenrechts, die Listungsverfahren der UN und der EU oder die freiheitsentziehenden Maßnahmen des Ausländerrechts.
Die neuen präventiven Maßnahmen führen damit zur Gefahr, dass Regierungen unter dem Deckmantel der neuen Sicherheitsregime klassische strafrechtliche Garantien ausschalten, die sich die Bürgerinnen und Bürger seit der Aufklärung in einem langen Kampf gegen staatliche Willkür erstritten haben.
Der neue Ansatz des Freiburger MPI für ausländisches und internationales Strafrecht
Die neuen Optionen der präventiven Kriminalpolitik mit ihrem Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit machen das Sicherheitsrecht damit zu einem hochinteressanten neuen Forschungsfeld. Dabei geht es zum einen darum, die Chancen einer wirksameren Kriminalitätskontrolle zu nutzen; zum anderen müssen aber angemessene rechtsstaatliche Garantien entwickelt werden, die entweder aus dem Strafrecht übertragen oder aber eigenständig aus dem Verfassungsrecht und allgemeinen Menschenrechten hergeleitet werden können.
Die strafrechtliche Abteilung des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht hat zu dieser bisher kaum behandelten Thematik ein neues zukunftsweisendes Forschungskonzept entwickelt. Dieses war so überzeugend, dass die Max-Planck-Gesellschaft dazu in den letzten Jahren nicht nur die Einrichtung von zwei einschlägigen Otto-Hahn-Nachwuchsgruppen des Freiburger Instituts beschlossen hat, sondern auch die Schaffung einer neuen dritten Abteilung des Instituts zu Fragen des Sicherheitsrechts.