Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie

Zugvogelgenetik – wie finden Vögel ihren Weg?

Autoren
Liedvogel, Miriam
Abteilungen
Max Planck Forschungsgruppe Verhaltensgenomik
Zusammenfassung
Zugvögel fliegen auf ihrer Reise zielgenau über tausende von Kilometern, oft über Kontinente hinweg, in ein Überwinterungsgebiet, in dem sie noch nie zuvor gewesen sind. Und das ohne die Hilfe ihrer Eltern, dafür aber mit bewundernswerter Genauigkeit. Wie schaffen sie das? Züchtungsversuche haben gezeigt, dass die Zugrichtung und das Zeitprogramm des Vogelzugs eine genetische Grundlage haben. Der Vogel weiß also, wann er wie lange in welche Richtung fliegen muss, um rechtzeitig im Winter in wärmeren Gefilden zu landen. Wir möchten verstehen, welche Gene hierbei eine Rolle spielen.

Anpassungen an die Herausforderung Vogelzug

Tierwanderungen und Zugverhalten - zeitlich koordinierte, gerichtete, meist periodische Massenbewegungen aller oder vieler Individuen einer Art oder Population - sind im Tierreich weit verbreitet. Bei Vögeln ist das Zugverhalten extrem variabel und reicht von spektakulären Schwarmformationen bis zum nahezu unbemerkten Vogelzug kleiner Singvögel. Letztere ziehen nachts, und sie sind dabei auf sich alleine gestellt. Besonders faszinierend ist hier die Orientierungsleistung von Jungvögeln auf ihrem ersten Zug. Die Altvögel verlassen die Brutgebiete häufig schon einige Wochen früher, die Jungvögel bilden die Nachhut und fliegen mit beeindruckender Präzision über tausende von Kilometern, oft über Kontinente hinweg, an einen Ort, an dem sie noch niemals zuvor waren.

Um diese Herausforderung zu meistern, verfügen Zugvögel über eine Reihe von Anpassungen. Sie haben eine angeborene Richtungspräferenz. Zur Orientierung auf ihren Langstreckenflügen nutzen Vögel Himmelskörper wie Sonne und Sterne sowie das Erdmagnetfeld als Referenzsysteme. Darüber hinaus verfügen Zugvögel auch über ein internes Zeitprogramm, das sicherstellt, dass der Vogel rechtzeitig losfliegt. Auch die Dauer des Flugs, entsprechend der Distanz zwischen Brut- und Überwinterungsgebiet, wird durch dieses angeborene Zeitprogramm koordiniert.

Die Mönchsgrasmücke – ein ideales Studienobjekt

Die Mönchsgrasmücke Sylvia atricapilla (Abb. 1) ist einer der häufigsten Brutvögel in Europa und hervorragend dafür geeignet, evolutionäre Aspekte wie die genetische Architektur des Vogelzugs zu untersuchen [1]. Entlang ihres Verbreitungsgebietes weist die Art die größtmögliche Bandbreite im Zugverhalten auf. Nordeuropäische Brutpopulationen sind primär Langstreckenzieher, die meisten in Mitteleuropa brütenden Populationen sind Mittelstreckenzieher, Brutpopulationen im Mittelmeerraum sind Kurzstrecken- oder Teilzieher - nicht alle Individuen der Population ziehen. Eine Besonderheit der Mönchsgrasmücke ist weiter, dass sich sowohl auf dem Festland der Iberischen Halbinsel als auch auf den Atlantikinseln (Kanarische Inseln, Azoren, Kap Verden) sesshafte Populationen finden.

Zusätzlich zur Variabilität in der Zugdistanz und für unsere Forschung von besonderem Interesse weist die Mönchsgrasmücke auch Zugscheiden auf. Zugscheiden sind Gebiete, in denen benachbarte Populationen klar unterschiedliche Zugrouten aufweisen. Die zentral europäische Zugscheide der Mönchsgrasmücke verläuft von Nord nach Süd etwa zwischen 11° und 15° östlicher Breite durch Europa: Brutpopulationen westlich der Zugscheide ziehen im Herbst über Gibraltar nach Nordwest-Afrika, während die Zugroute der östlichen Brutpopulationen die Vögel östlich um das Mittelmehr herum führt - beide Populationen überwintern also in geographisch klar getrennten Gebieten.

Der eindeutige Beweis, dass Unterschiede im Zugverhalten angeboren sind, also genetisch manifestiert und nicht von den Eltern erlernt werden, stammt aus Kreuzungsexperimenten in großen Maßstab, die am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell durchgeführt wurden [1, 2].

Zugverhalten hat eine genetische Komponente

Die Züchtungsexperimente zeigen klar, dass Nachkommen von selektiv nach Zugverhalten verpaarten Elterntieren das gleiche Zugverhalten der Elterngeneration aufweisen. Abbildung 2 zeigt exemplarisch das Vererbungsmuster für verschiedene Zugrichtungen. Nachkommen selektiv miteinander verpaarter Südostzieher (SO) orientieren sich ebenfalls nach SO, entsprechend verhielt es sich für selektiv gezüchtete Südwestzieher (SW). Die Nachkommen wurden ohne Kontakt zu ihren Eltern aufgezogen, eine Lernkomponente durch die Eltern kann somit ausgeschlossen werden; das Orientierungsverhalten der Jungvögel basierte ausschließlich auf der vererbten Information.

Besonders spannend ist das Ergebnis der kreuzweisen Verpaarung von SO- und SW-Ziehern: Die Nachkommen dieser Kreuzungen zeigen ein intermediäres Zugverhalten mit mittlerer Orientierungsrichtung. Diese Zugrichtung erfährt in der Natur sehr wahrscheinlich einen hohen Selektionsdruck, da sie die Vögel während des Herbstzugs über die Alpen führt, ebenso müssen die Vögel entlang dieser Zugroute das Mittelmeer und die Sahara an der jeweils breitesten Stelle überqueren. All dies sind signifikante ökologische Barrieren, die ein Vogel in der Natur meidet.

Vom Phänotyp zum Genotyp

Aber welche Gene kontrollieren dieses komplexe Verhalten? Bisher ist das Wissen über die Anzahl oder Identität der Gene, die das Zugverhalten bestimmen, sehr limitiert [3, 4]. Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie sehr sich Populationen mit verschiedenem Zugverhalten generell auf genetischer Ebene unterscheiden, werden häufig klassische Methoden, zum Beispiel mitochondriale DNA-Marker - diese werden ausschließlich mütterlicherseits vererbt, erfahren keinerlei Rekombination und sind sehr polymorph - oder Mikrosatelliten - das sind neutrale Marker, die kurze repetitive Sequenzmotive darstellen - genutzt [5, 6]. Dieser Ansatz lieferte allerdings bei der Mönchsgrasmücke keine klare Antwort. Die phänotypisch, das heißt bezüglich ihres Zugverhaltens diversen Populationen sind genetisch sehr ähnlich, sodass neutrale Marker keine Feinstruktur erkennen lassen, mit anderen Worten: Die Populationen gruppieren zusammen als eine panmiktische, also einheitlich zusammenhängende Population. Das liegt daran, dass die verschiedenen Zugstrategien erst seit Ende der letzten Eiszeit und somit innerhalb eines, evolutionär gesehen, sehr kurzen Zeitraums entstanden sind. Erst mit dem Rückgang der Gletscher konnte sich die Spezies weiter ausbreiten und neue Brutgebiete besiedeln. Die Mönchsgrasmücke schien besonders erfolgreich zu sein und konnte sich durch verschiedene Anpassungen an die sich ändernden Klimabedingungen einstellen und ihr Verhalten auf die jeweils herrschenden Umweltbedingungen anpassen. So entstand innerhalb kurzer Zeit ein sehr erfolgreiches Verhaltensrepertoire. Um eine eindeutige Signatur auch in der zugrundeliegenden genetischen Architektur auf Basis weniger neutraler Marker ablesen zu können, ist die Anpassung aber noch zu jung.

Neue Dimensionen dank Hochdurchfluss-Sequenzierung: Das gesamte Genom unter der Lupe

Um Populationsstrukturen im Verbreitungsgebiet der Mönchsgrasmücke besser zu verstehen, ist also eine höhere Auflösung auf Genomebene nötig - zufällig im Genom verteilte Marker reichen nicht aus. Dank der sich rapide entwickelnden Sequenzierungstechnologie ist diese Auflösung heute auch für genetisch bisher nicht charakterisierte Organismen möglich. Mittels Hochdurchfluss-Sequenzierung untersuchen wir Mönchsgrasmückenpopulation im gesamten europäischen Verbreitungsgebiet bezüglich Größe, Struktur, Entwicklung und zugrundeliegender evolutionärer Prozesse. In einem ersten Schritt haben wir ein Referenzgenom für die Mönchsgrasmücke erstellt. Die Gesamtgröße des Genoms ist 1,1 Gigabasen (Gb), der N50 Wert, ein Maß für die Güte des sogenannten assemblies, dem aus vielen Einzelsequenzen zusammengesetzten Referenzgenoms, liegt bei 21 Mb. Dies entspricht der mittleren Länge der Einzelsequenzen. Dieses Genom dient uns als Referenz für insgesamt 110 re-sequenzierte Genome von Individuen mit unterschiedlicher geographischer Verbreitung und diversem Zugverhalten (Abb. 1B). Zusätzlich haben wir die Genome der nächsten Verwandten der Mönchsgrasmücke - fünf Gartengrasmücken der Spezies Sylvia borin sowie drei Mönchsbuschdrosslinge der Art Pseudoalcippe abyssinica - als eindeutig definierte Outgroup sequenziert, um den phylogenetischen, also verwandtschaftlichen Stammbaum in einen taxonomischen Kontext setzen zu können.

Populationsunterschiede und demographische Entwicklung

Die deutlichsten Unterschiede fanden wir zwischen Festland- und Inselpopulationen. Die Inselgruppen sind genetisch sowohl untereinander als auch im Vergleich zu den auf dem Festland brütenden Populationen unterscheidbar. Dies deutet auf verschiedene und unabhängige Kolonisierungswellen der Inselgruppen hin. Eine Untergliederung der Populationen nach Zugphänotyp ist, basierend auf Sequenzunterschieden, jedoch nicht signifikant.

Gezielte Analysen der demographischen Entwicklung verschiedener Populationen hingegen lassen uns historische Populationsgrößen sowie den Zeitpunkt der Abspaltung verschiedener Populationen besser abschätzen. Im demographischen Verlauf ist die Populationsstruktur der Stand- und Zugpopulationen bis vor etwa 300.000 Jahren sehr einheitlich. Dies lässt eine einzelne, sesshafte Ursprungspopulation in der Gegend um Gibraltar inklusive des nördlichen Afrikas vermuten, aus der sich im weiteren Verlauf Populationen mit der heutigen Bandbreite der verschiedenen Zugphänotypen abgespaltet haben könnten. Populationen mit Zugverhalten durchliefen zwei Expansionswellen, die zeitlich mit den sich ändernden globalen Klimaverhältnissen und Gletscherformationen und dem nachfolgenden Rückgang der Eisplatten der letzten Eiszeiten übereinstimmen. Aktuell befinden sich alle ziehenden Populationen in einer expansiven Phase, die vor etwa 30.000 Jahren mit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit eingeläutet wurde. Sehr wahrscheinlich kann diese Expansion und die damit einhergehende Etablierung neuer Verhaltensstrategien durch die Verfügbarkeit neuen Habitats, verbunden mit einer Ausweitung der Zugdistanz, nach Rückzug der Eisplatten begründet werden.

Die Größe der sesshaften Populationen ist im Vergleich mit den ziehenden Populationen über die Zeit sehr viel stabiler. Die Kolonialisierung der Atlantikinseln fand vor etwa 100.000 Jahren in unabhängigen Wellen durch Mittelstreckenzieher statt. Alle Inselpopulationen haben nach der Kolonialisierung ihr Zugverhalten wieder verloren und sind heute sesshaft.

Mit dem Ziel, diejenigen Gene identifizieren und charakterisieren zu können, die die Variabilität des Zugverhaltens maßgeblich formen, kombinieren wir Untersuchungen auf Sequenzebene auch mit epigenetischen Ansätzen sowie Analysen des Genexpressionsmusters verschiedener Zugphänotypen. Alles zusammen wird dies nicht nur unser Wissen über die genetischen Architekturen des Zugverhaltens bereichern, sondern auch wichtige Auswirkungen auf unser Verständnis von genetischer Adaptation in Kombination mit ökologischen Anpassungsstrategien an Klimaveränderungen haben.

Literaturhinweise

Berthold, P.; Helbig, A. J.; Mohr, G.; Querner, U.
Rapid microevolution of migratory behavior in a wild bird species
Nature 360, 668-670 (1992)
Helbig, A. J.
Genetic basis, mode of inheritance and evolutionary changes of migratory directions in Palearctic warblers (Aves: Sylviidae)
Journal of Experimental Biology 199, 49-55 (1996)
Liedvogel, M.; Åkesson, S.; Bensch, S.
The genetics of migration on the move
Trends in Ecology & Evolution 26, 561-569 (2011)
Delmore, K. E.; Liedvogel, M.
Investigating factors that generate and maintain variation in migratory orientation: a primer for recent and future work
Frontiers in Behavioural Neuroscience 10: 3 (2016)
Pérez-Tris, J.; Bensch, S.; Carbonell, R.; Helbig, A. J.; Telleria, J. L.
Historical diversification of migration patterns in a passerine bird
Evolution 58, 1819-1832 (2004)
Segelbacher, G.; Rolshausen, G.; Weis-Dootz, T.; Serrano, D.; Schaefer, H. M.
Isolation of 10 tetranucleotide microsatellite loci in the blackcap (Sylvia atricapilla)
Molecular Ecology Resources 8, 1108-1110 (2008)

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