Leseproben aus dem Jahrbuch 2016

9. Juni 2016

Unser Jahrbuch 2016 bündelt Berichte über Forschungsarbeiten der Max-Planck-Institute und vermittelt anschaulich die Vielfalt an Themen und Projekten. Wir haben fünf Beiträge ausgewählt.

Stau in der Proteinfabrik 

Damit in einem Autowerk fahrtüchtige Neuwagen vom Band rollen, muss die Geschwindigkeit der Fließbänder stimmen. Läuft das Band langsamer, während die Maschinen im gleichen Tempo weiterarbeiten, passieren schwere Fehler. Ganz ähnlich ist es bei der Proteinherstellung in der Zelle: Hier schweißen die Ribosomen – große Komplexe aus Proteinen und Ribonukleinsäure – einzelne Aminosäuren zu Peptidketten zusammen. Spezielle Faltungshelfer, sogenannte Chaperone, bringen diese in die richtige Form. Das Team um Sebastian Leidel am MPI für molekulare Biomedizin untersucht mutierte Hefezellen, bei denen die Herstellung der Peptidketten aufgrund eines defekten Enzyms teilweise verlangsamt ist. Das bringt die Chaperone aus dem Takt: Proteine werden fehlerhaft gefaltet, verklumpen und häufen sich in der Zelle an, bis diese schließlich versagt. Die Befunde sind für die Medizin von großem Interesse: Proteinklumpen finden sich bei neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson.

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Grippeviren im Computer 

Wir sind umgeben von Viren und Bakterien, die sich im Wettstreit ums Überleben ständig verändern – eine große Herausforderung bei der Entwicklung von Impfstoffen. Die Arbeitsgruppe um Richard Neher am MPI für Entwicklungsbiologie erarbeitet Computermodelle, die es ermöglichen, die evolutionäre Dynamik von Mikroorganismen vorherzusagen. Damit können die Forscher etwa Prognosen über die Eigenschaften künftiger Virusstämme treffen. Für Grippeerreger ist dies besonders relevant, weil der Impfstoff immer wieder aktualisiert werden muss, damit er zuverlässig wirkt. Die Wissenschaftler verglichen ihr Modell mit der Evolution von Grippeviren in den Jahren 1995 bis 2014. Im gesamten Zeitraum lagen ihre Vorhersagen zur vorherrschenden Virusvariante nah an der Wirklichkeit, in vielen Jahren trafen sie sogar genau zu. Derzeit verfeinern die Forscher ihre Methode, um der WHO optimale Prognosen für die Impfstoffzusammensetzung liefern zu können.

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Chronischen Schmerz besiegen 

Akuter Schmerz ist überlebenswichtig. Er stellt sicher, dass wir die Hand von der heißen Herdplatte ziehen, verletzte Gliedmaßen schonen oder bei einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus fahren. Chronische Schmerzen sind hingegen eine Fehlanpassung des Nervensystems und lassen sich zudem nur schwer therapieren. An der Schmerzentstehung sind in beiden Fällen spezielle Membranproteine in den Nervenzellen beteiligt. Sie dienen als molekulare Antennen, die schmerzhafte Reize wahrnehmen und weiterleiten. Dabei treten sie mit vielen anderen Proteinen in Kontakt. Welche Proteine für die eine oder andere Schmerzform relevant sind und wie sie miteinander wechselwirken, ist bislang wenig bekannt. Manuela Schmidt und ihr Team am MPI für experimentelle Medizin erforschen an Mäusen, welche Proteine ausschließlich bei chronischen Schmerzen eine Rolle spielen. Dies soll dazu beitragen, neue, effektive Schmerztherapien mit möglichst geringen Nebenwirkungen zu entwickeln.

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Experimentierbeginn in Greifswald  

Nach neun Jahren Bauzeit und gut einem Jahr technischer Vorbereitungen war es am 10. Dezember 2015 am MPI für Plasmaphysik (IPP) in Greifswald soweit: Das erste Helium-Plasma wurde in der neuen Fusionsanlage Wendelstein 7-X erzeugt. Kernstück der Anlage sind 50 supraleitende, 3,5 Meter hohe Magnetspulen, die auf ein stählernes Plasmagefäß aufgefädelt sind. Die Form dieser Spulen ist das Ergebnis ausgefeilter Optimierungsrechnungen. Wendelstein 7-X soll nachweisen, dass neben den einfacher aufgebauten Tokamaks, die das IPP in Garching untersucht, auch die komplexen Stellarator-Anlagen kraftwerkstauglich sind. Nachdem die ersten Plasmen nur für Sekundenbruchteile erzeugt worden sind, wird das Plasmagefäß im Jahr 2016 wieder geöffnet, um Kohlenstoffkacheln zum Schutz der Gefäßwände zu montieren, mit denen dann höhere Heizleistungen möglich werden. In rund vier Jahren sollen dann 30 Minuten lange Entladungen möglich sein.

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Astronomisches Rätsel nach 345 Jahren gelöst 

Im Jahr 1670 erschien am Himmel über Europa ein neuer Stern, der zeitweise sogar mit dem bloßen Auge zu sehen war. Lange Zeit dachte man, dass es sich dabei um eine Nova, also den explosiven Ausbruch in einem engen Doppelsternsystem gehandelt hat. Erst im Jahr 2015, also 345 Jahre nach dem Ereignis, haben Karl Menten und Tomasz Kaminski vom MPI für Radioastronomie gezeigt, dass dahinter wohl ein viel selteneres Phänomen steckte, nämlich die Kollision zweier Sterne. Mit dem APEX-Teleskop in Chile, dem Submillimeter Array auf Hawaii sowie dem 100-Meter-Radioteleskop in Effelsberg konnten die Wissenschaftler die Gaswolke am Ort der Explosion untersuchen und fanden dabei eine Reihe von kleinen organischen Molekülen wie Blausäure, Methanol und sogar Formaldehyd. Die Masse des kalten Gases war jedoch zu groß, um in einer Nova entstanden zu sein; auch die Isotopenverhältnisse der Elemente waren ganz andere als normal.

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Finanzstabilität in der Bankenunion

Die Stabilität des globalen Finanzsystems ist seit der Finanzkrise 2007– 2009 und der andauernden Eurokrise in der Diskussion. Stephan Luck und Paul Schempp vom MPI zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern plädieren für die Vervollständigung der Europäischen Bankenunion: Diese umfasst einen einheitlichen Mechanismus zur Bankenaufsicht und -abwicklung, jedoch keine einheitliche Einlagensicherung. Dabei ist eine glaubwürdige Einlagensicherung ein wirksames Mittel gegen selbsterfüllende Bank Runs, also gegen das kollektive Abheben der Einlagen durch die Kunden und damit die Pleite der Bank. Die nationale Einlagensicherung in den schwächeren Eurostaaten ist nur eingeschränkt glaubwürdig. Die Angst der stärkeren Staaten, für Probleme anderer Staaten zu haften, hat eine einheitliche Einlagensicherung bisher verhindert. Aufgrund der intensiven Verflechtung des europäischen Bankensystems ist eine Krise in den schwächeren Staaten jedoch für alle fatal, weshalb auch alle von einer einheitlichen Einlagensicherung profitieren.

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Tödliche Gewalt bei Auslandseinsätzen

Der Einsatz von Waffengewalt durch deutsche Streitkräfte bei Auslandseinsätzen ist v. a. seit dem verheerenden Luftangriff in Kundus im Jahr 2011 mit zahlreichen zivilen Opfern in der Diskussion. Er steht im Kontext asymmetrischer Konflikte, in denen Mittel und Grenzen der Kriegsführung durch Streitkräfte v. a. westlicher Demokratien politisch und juristisch umstritten sind. In seiner Dissertation hat Carl-Wendelin Neubert vom MPI für Strafrecht in Freiburg den Waffeneinsatz aus Sicht des Völkerrechts und des deutschen Rechts untersucht. Neubert analysiert etwa, dass in bewaffneten Konflikten auch das deutsche Recht den Einsatz tödlicher Gewalt weniger strengen Voraussetzungen unterwirft als im Inland, dass aber in weitgehend befriedeten Konfliktzonen die strikten Regeln des Schusswaffengebrauchs im Inland gelten. Die bisherigen Rechtsgrundlagen für den Einsatz tödlicher Gewalt bei Auslandseinsätzen halten jedoch den Anforderungen des Grundgesetzes nicht stand – es bedarf neuer Gesetze, um Rechtssicherheit herzustellen.

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