Rechtswissenschaften: Gesetzgebung im Umbruch

Rechtswissenschaften: Gesetzgebung im Umbruch

Wie Gesetze erlassen werden, ändert sich. Viele Privatunternehmen und Verbände regeln ihre Angelegenheiten eigenständig, ohne innerstaatliches Recht. Neu aufgekommen sind auch Optionsmodelle, die Verbrauchern und Unternehmen zusätzliche Wahlmöglichkeiten bieten. Eine wichtige Aufgabe für Rechtswissenschaftler besteht darin, diese neuen Regulierungsformen besser zu verstehen und fortzuentwickeln.

Es sind nicht mehr nur die Einzelstaaten, die als Regelgeber auftreten.

Mit der zunehmenden Globalisierung unserer Gesellschaft ändert sich auch das Recht – und damit der Aufgabenbereich von Rechtswissenschaftlern.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Rechtswissenschaft zunehmend von der reinen Gesetzesauslegung gelöst und stärker den Fragen einer besseren Gesetzgebung zugewandt. Durch diese Schwerpunktverlagerung hin zu einer Gesetzgebungswissenschaft ergeben sich neue Möglichkeiten für juristische Problemlösungen. Rechtswissenschaftler belassen es heute nicht dabei, die Spruchpraxis zu analysieren und die juristische Dogmatik zu verfeinern, sondern konzentrieren sich stärker darauf, neue Gesetzesvorschläge auszuarbeiten. Dies könnte sich für den Erhalt und die Fortentwicklung des Rechtssystems als wesentlich effizienter erweisen.


Erschwert wird diese Aufgabe dadurch, dass die Zahl der Akteure in unserem Rechtssystem inzwischen größer ist als je zuvor. Es sind nicht mehr nur die Einzelstaaten, sondern auch supranationale Organisationen, wie die Europäische Union, oder die Marktakteure selbst, die als Regelgeber auftreten. So können Privatunternehmen etwa darauf bestehen, dass ihre Kunden und Geschäftspartner Verhaltenskodizes befolgen. Ingesamt haben wir es heute mit einem rechtlichen Mehrebenensystem zu tun, für das zahlreiche Regelgeber verantwortlich sind.


Dieser Artikel beschäftigt sich mit zwei entscheidenden Veränderungen des Rechtssystems: den ‚privaten’ Gesetzgebern und dem zunehmenden Trend, dass supranationale Organisationen ‚optionale’ Gesetze erlassen, die anstelle der nationalen Gesetzgebung Anwendung finden.

Private Akteure als Regelgeber

Private Organisationen wie Unternehmen, Börsen oder Industrieverbände können ihre eigenen Regeln und Vorschriften erlassen. Diese sind zwar nicht rechtsverbindlich im engeren Sinne wie hoheitlich gesetztes Recht. Für Geschäftspartner und sonstige Beteiligte entfalten sie jedoch häufig als sog. Soft Law eine faktische Bindungswirkung.

Diese Idee der Selbstregulierung ist nicht neu – schon während der industriellen Revolution in Großbritannien im 19. Jahrhundert erließen viele Unternehmen ihre eigenen Vorschriften.

Durch die zunehmende Globalisierung gewinnt das Modell der Selbstregulierung wieder an Bedeutung. Besonders hilfreich sind private Regeln, die zum Teil vom nationalen Recht abweichen, bei der Abwicklung grenzüberschreitender Geschäfte.

Eine große Zukunftsaufgabe für das Privatrecht besteht in der Entwicklung eines Europäischen Vertragsrechts, das in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten soll. Der Grundstein hierfür wurde in den 1980er Jahren durch eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern gelegt, die sog. Lando-Kommission. Sie erarbeitete einen ersten Referenztext: die Principles of European Contract Law. Spätere Kommissionen konnten auf dieser Pionierarbeit aufbauen. Inzwischen liegt der Entwurf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht1 vor, der intensiv diskutiert wird.


Auch im Online-Bereich, wo die Rechtszuständigkeiten zuweilen unklar sind, gewinnen private Akteure an Bedeutung. Die private gemeinnützige Organisation Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) ist seit 1999 für die globale Überwachung des Internet zuständig. Mit ihren jüngsten Erfolgen bei der Entwicklung neuer Domänenendungen und der Einführung von Internet-Adressen mit nicht-westlicher Schreibweise hat sie erneut auf das Potential für private Regelgebung aufmerksam gemacht.

Unterstützung für Optionsmodelle

Ein zweiter Trend der modernen Gesetzgebung ist die Entwicklung von „Optionsmodellen“ durch die Europäische Union2. Diese Gesetze gelten für sämtliche Mitgliedstaaten und bieten einen alternativen Regelrahmen, der neben das nationale Recht tritt und dieses grundsätzlich unberührt lässt. Damit können Marktakteure oder EU-Mitgliedstaaten zwischen verschiedenen Modellen wählen. In der Rechtspraxis finden diese Modelle großen Anklang, da sich mit ihnen im grenzüberschreitenden Verkehr viele Probleme bewältigen lassen, die durch nationale Rechtsunterschiede entstehen.

Optionsmodelle werden derzeit für viele Rechtsbereiche diskutiert, unter anderem für das Immaterialgüterrecht, das Versicherungsvertragsrecht und das Kaufrecht. Im Februar 2014 fand ein Vorschlag zur Einführung eines optionalen Europäischen Kaufrechts große Zustimmung im Europäischen Parlament3. Dieser Vorschlag könnte zu einer wesentlich reibungsloseren Abwicklung von grenzüberschreitenden Kaufgeschäften in Europa beitragen. Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei der Gründung neuer Unternehmen beobachten: Gesellschaftsgründer können zwischen einer nationale Rechtsform (in Deutschland z.B. die Aktiengesellschaft (AG)) und einer supranationalen Rechtsform (z.B. die Europäische Aktiengesellschaft, Societas Europaea) wählen.

Neuausrichtung

Die Erforschung dieser neuen Regulierungsstrategien bietet Rechtswissenschaftlern viele neue Möglichkeiten. Sinnvoll und wichtig ist ein Vergleich der gelebten Praxis in verschiedenen Rechtssystemen. Dabei müssen insbesondere Pfadabhängigkeiten und rechtskulturelle Unterschiede berücksichtigt werden, die sich etwa in der Verhandlungspraxis oder in Vertragsmustern zeigen.

Optionsmodelle stellen eine neue Entwicklung dar, deren Besonderheiten und Anwendungsmöglichkeiten ebenfalls Beachtung verdienen. Rechtswissenschaftler müssen darauf hinwirken, dass sie den Nutzern bestmögliche Entfaltungsmöglichkeiten bieten und zugleich das Gefüge des Europäischen Rechts stabilisieren.


Die Rechtswissenschaft weiß um die Veränderungen, welche die Globalisierung für ihr Fachgebiet mit sich bringt. Durch den zunehmenden Handel mit nicht-westlichen Ländern wie z.B. China ergeben sich neue Herausforderungen. Rechtswissenschaftler können wichtige Impulse geben, um die Koordination von Regelgebern, Rechtskulturen und Regulierungsstrategien weiter voranzutreiben und die Verzahnung von nationalem, supranationalem und internationalem Recht zu verbessern.

Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg untersuchen derzeit das Konzept der optionalen Instrumente, mit deren Hilfe das Problem eines Nebeneinanders von nationalen und supranationalen Regelgebern gelöst werden könnte. Dabei fanden sie eine Reihe von Mängeln, die im Entwurf eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts dringend ausgemerzt werden müssen (Eidenmüller et al., Edinburgh Law Rev. 16.3, 301–357, 2012).

Bibliographie:

1Schulte-Nölke, H. et al., Joint Network on European Private Law. http://www.copecl.org, aufgerufen im April 2014.

2Fleischer, H. RabelsZ. 76, 235–252 (2012).

3Common European Sales Law. http://cordis.europa.eu/result/rcn/60728_en.html.

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