Hans Joas

Zwischen Religion und Moderne entstehen oft Spannungsfelder, in denen sich nicht-gläubige und religiös geprägte Menschen verständnislos, wenn nicht gar feindlich gegenüber stehen; ebenso Angehörige unterschiedlicher Religionen. Hans Joas betrachtet nicht die Gräben, sondern sucht nach dem Verbindenden.

Ein wichtiger Ansatz, den er dazu entwickelt hat, ist ein Stufenmodell, mit dem man religiöse Erfahrungsmuster deuten und beschreiben kann. Den Ausgangspunkt aller religiösen Erfahrung sieht Joas in der Selbsttranszendez. Damit meint er die psychologische Beschreibung eines Phänomens, das wohl jeder Erwachsene in seinem Leben schon erfahren hat: beispielsweise als Naturerfahrung mit dem Gefühl am Meer, auf einem Berggipfel oder im tiefen Wald mit der Natur zu verschmelzen. Sich-verlieben zählt Joas ebenfalls zu dieser Kategorie, ebenso wie den Tod eines nahestehenden Menschen zu erleben. Indem er die Erfahrungen der Selbsttranszendenz ins allgemeine Bewusstsein ruft, schafft Joas eine Basis für ein wechselseitiges Verständnis von Gläubigen und Nicht-Gläubigen.

Der religiöse Glaube geht allerdings weit über die Erfahrung der Selbsttranszendenz hinaus. Gläubige Menschen deuten sie anders und können dadurch das erleben, was Joas „sakramentale Erfahrung“ nennt, die zweite Stufe in seinem Modell. Sehr anschaulich hat Joas das einmal in einem Interview am Beispiel des Gebets erklärt: „Wir wissen, dass viele nicht-gläubige Menschen eine leichte Tendenz haben, gelegentlich einmal zu beten. Für den Gläubigen aber, der wirklich annimmt, dass da ein Gegenüber ist, ein Gott, besteht die Möglichkeit, dass er eine Antwort bekommt. Insofern erweitert der Glaube die Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen.“

In der dritten Stufe des Modells kommt schließlich Transzendenz im religiösen Sinn ins Spiel. Transzendenz bedeutet, dass Gott, die Götter oder das göttliche Prinzip nicht einfach Teil des menschlichen Universums, seines Wissens und Erfahrungshorizonts sind, sondern darüber stehen. So, wie es auch in der Bibel heißt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die Idee der Transzendenz kam in der Antike, in der sogenannten „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 vor Christus auf, in der auch die großen Weltreligionen, wie Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus ihre Wurzeln haben. Joas sieht die Transzendenz als „tiefe Gemeinsamkeit“ zwischen Weltreligionen, die einen friedlichen Dialog ermöglicht.

Hans Joas ist jedoch viel zu sehr Realist, als dass er sein Modell für die Lösung der aktuellen religiös aufgeladenen Konflikte halten würde. Wie er betont, lässt sich der politische Islamismus keinesfalls rein aus religionssoziologischer Sicht verstehen. Stattdessen müsse man das gesamte Geflecht historischer, politischer und militärischer Faktoren in den Blick nehmen. Die Zukunft, betonte Joas im Interview, sei weniger abhängig von einem interreligiösen Dialog als von politischen Entscheidungen.

In jüngerer Zeit hat Hans Joas mit einem weiteren Ansatz Aufmerksamkeit erregt, mit dem er wiederum Religion und Moderne zusammenführt. Dabei geht es um die Menschenrechte, ihre Herleitung und damit auch ihre universelle Gültigkeit. Bisher wurde der Ursprung der Menschenrechte meist in der Aufklärung und der christlichen Tradition gesehen. Dadurch bekommen die Menschenrechte jedoch schnell das Etikett „westlich“. Sehr leicht lässt sich damit begründen, sie seien in anderen Kulturkreisen nicht anwendbar.

Joas setzt dem eine ganz neue Herleitung entgegen: Er legt dar, dass die Menschenrechte im 18. Jahrhundert durch eine kulturelle Veränderung entstanden sind: nämlich der Vorstellung von der Sakralisierung des Menschen. Nach und nach habe sich die Ansicht durchgesetzt, dass jede einzelne Person in ihrer Individualität als einzigartig und damit in gewisser Weise als heilig gilt. Joas zeigt mit diesem Ansatz, dass die Menschenrechte in den säkularisierten Ländern Europas wie Glaubenssätze wirken. Die Basis für diese Sakralisierung sieht Joas schon lange vor Christus: in der antiken Philosophie und der Bibel, aber zusätzlich auch in anderen Kulturräumen wie in Indien im Buddhismus oder in China im Konfuzianismus.

Zur Biografie:

Hans Joas wurde 1948 in München geboren. Er studierte Soziologie, Philosophie und deutsche Literatur und wurde 1979 an der FU Berlin promoviert. Im Anschluss forschte er für acht Jahre am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und habilitierte sich in dieser Zeit an der FU Berlin. 1987 wurde er auf eine Professur an der Universität Erlangen-Nürnberg berufen.

Drei Jahre später wechselte er an das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien und das Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, wo er bis 2002 Ordinarius blieb. Es folgte der Ruf der Universität Erfurt zum Max-Weber-Professor und Direktor des Max-Weber-Kollegs. Von 2011 bis 2014 arbeitete er schließlich als Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und ist seither Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität.

Hans Joas’ Oeuvre ist in viele Sprachen übersetzt und wird in zahlreichen Ländern rezipiert. Von verschiedenen ausländischen Universitäten wurde er als Gastprofessor geladen, unter anderem als Theodor-Heuss-Professor an die New School for Social Research in New York. Auch in Schweden und Südafrika verbrachte er mehrere Forschungsaufenthalte. Im Jahr 2000 berief ihn die University of Chicago als Mitglied in das angesehene Committee on Social Thought. Von 2006 bis 2010 amtierte er zudem als Vizepräsident der International Sociological Association.

Für seine Arbeiten wurde Joas mehrfach geehrt, unter anderem mit zwei Ehrendoktorwürden, dem Hans-Kilian-Preis und dem Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zeichnete ihn 2012 mit der Werner-Heisenberg-Medaille für seine besonderen Verdienste in der Förderung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit aus.

MEZ

 

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