Chemie im Wandel der Zeit

Vor 100 Jahren öffnete in Berlin-Dahlem das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie seine Pforten.

22. Oktober 2012

Schon drei Jahre später konnte es mit dem ersten Nobelpreisträger aufwarten: Richard Willstätter hatte die Struktur des Chlorophylls aufgeklärt. Weltberühmt wurde die Forschungsstätte, aus der das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hervorging, durch die Entdeckung der Kernspaltung.

Text: Elke Maier

Die feierliche Eröffnung war für den 23. Oktober 1912 angesetzt. Um 10 Uhr vormittags hatte sich im Bibliothekssaal des chemischen Instituts die Prominenz aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik versammelt. Man erwartete hohen Besuch: Der Kaiser persönlich sollte das Institut für Chemie einweihen, zusammen mit dem benachbarten Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie. Damit nahmen die beiden ersten Forschungsstätten der im Vorjahr gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ihre Arbeit auf.

„Das Haus hat sich heute festlich geschmückt, wie die Braut am Hochzeitstage“, sprach Emil Fischer, der Vorsitzende des Vereins Chemische Reichsanstalt, der sich für die Gründung der Forschungsstätte starkgemacht hatte. „Gilt es doch die Vermählung des Instituts mit der Wissenschaft zu feiern unter dem Schutze Ew. Majestät. Das Horoskop für den Bund ist deshalb leicht zu stellen. Wir erwarten zuversichtlich, daß aus ihm eine ununterbrochene Schar von blühenden, hoffnungsvollen Kindern in Gestalt von glänzenden Entdeckungen und nutzbaren Erfindungen hervorgeht […]“

Wie auch sein Nachbarinstitut war das Institut für Chemie vom Hofarchitekten Ernst von Ihne im Stil der Dahlemer Villen entworfen und in einer Rekordzeit von nur elf Monaten fertiggestellt worden. Die Labors waren ebenso modern wie funktionell: „Weißer Kachelbelag […] und reichlichste Verwendung von Glas nach allen Seiten sorgen für genügende Erhellung bei Tage. Abends dienen zur Beleuchtung […] elektrische Glühlampen […] Ein sauberer, blanker Fußbodenbelag erzieht direkt zur Reinlichkeit.“

Damit sich der hohe Besuch selbst ein Bild machen konnte, stand nach dem Festakt eine Besichtigung auf dem Programm: Der Kaiser bestaunte „Chlorophyll-Lösung von wunderbarer Farbe und Fluoreszenz“, betrachtete im Mikroskop kristallisiertes Blattgrün und ließ sich in einer Dunkelkammer leuchtende radioaktive Präparate vorführen. Das Institut für Chemie umfasste drei selbstständige Abteilungen: Die Abteilung für Anorganische und Physikalische Chemie unterstand dem Institutsdirektor Ernst Otto Beckmann. Leiter der Abteilung für Radioaktivität war zunächst der Chemiker Otto Hahn, später kam die Physikerin Lise Meitner hinzu. Für die Organische Chemie hatte man Richard Willstätter gewinnen können.

Willstätter war ein Schüler des berühmten Adolf von Baeyer, hatte in München über die Struktur des Kokains promoviert und an der ETH Zürich geforscht. In Dahlem widmete er sich der Fotosynthese sowie der Strukturaufklärung von Blüten- und Fruchtfarbstoffen. Dazu legte er den wohl prächtigsten Institutsgarten aller Zeiten an, darunter Pflanzungen „von großblütigen Astern, von rotem Salbei, von rotblättrigen roten Rüben, von tiefvioletten Stiefmütterchen […]“ Die ganze Pracht verschwand in großen Steinbottichen, um die darin enthaltenen Farbstoffe zu extrahieren. Dazu waren große Mengen Alkohol nötig, was wegen der hohen Alkoholsteuer schon bald das Budget überstieg. Richard Willstätter musste auf billigeres Aceton ausweichen. Doch die Investitionen zahlten sich aus: Für seine Forschung über die Pflanzenfarbstoffe, insbesondere das Chlorophyll, erhielt Willstätter 1915 den Nobelpreis für Chemie.

Die Arbeiten, für die ihm die hohe Auszeichnung zuteil geworden war, lagen zu diesem Zeitpunkt allerdings brach: Der Erste Weltkrieg diktierte die Forschung am Institut. Willstätter erhielt den Auftrag, Atemschutzfilter für Gasmasken zu entwickeln. Sie sollten die Truppen im Gaskrieg gegen Chlor, Phosgen und „sämtliche bekannten und möglichen Gifte und Reizstoffe“ schützen. Rund 30 Millionen Stück der neuen Dreischichtfilter kamen innerhalb eines Jahres zum Einsatz.

Auch Institutsdirektor Ernst Otto Beckmann hatte sich der nationalen Sache verschrieben. Ursprünglich beschäftigte sich der vielseitige Chemiker vor allem mit der präzisen Bestimmung von Molekularmassen, nun forschte er zu Fragen der Rohstoffversorgung. Für die Gewinnung proteinreicher Futtermittel war die Lupine ein vielversprechender Kandidat. Neben wertvollem Eiweiß enthält dieses Gewächs aus der Verwandtschaft der Erbse aber auch viele Bitterstoffe.

Um sie abzutrennen und die Pflanze genießbar zu machen, setzte der Forscher auf heißes Wasser und nahm zur Erfolgskontrolle regelmäßig Geschmacksproben. Ausschlaggebend war „das mehr oder weniger kratzende Gefühl, das sich beim Schlucken einer Probe des Auslaugewassers im hinteren Gaumen bemerkbar macht“. Die Selbstversuche sollten ihm zum Verhängnis werden: Im Jahr 1923 starb Beckmann – vermutlich an einer Vergiftungskrankheit, die aus der Veterinärmedizin als Lupinose bekannt ist.

Die Abteilung Hahn/Meitner wurde im Krieg zeitweise geschlossen. Otto Hahn diente in der Kampfgaseinheit, Lise Meitner war Röntgenassistentin in einem Lazarett. Doch schon bald danach ging es steil bergauf. In den 1920er-Jahren gehörte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie zu den wichtigsten Forschungsstätten auf dem Gebiet der Radioaktivität weltweit. 1938 schließlich wurde hier ein Prozess aufgeklärt, mit dem ein neues Zeitalter beginnen sollte: die Kernspaltung.

Wie so oft in der Wissenschaft war auch diese folgenschwere Entdeckung ein Zufallsprodukt, denn eigentlich waren Otto Hahn und Lise Meitner gemeinsam mit dem Chemiker Fritz Straßmann etwas völlig anderem auf der Spur. Ganz im Trend der damaligen Zeit wollten sie Transurane erzeugen – radioaktive Elemente, die noch schwerer sind als Uran und in der Natur nicht vorkommen. Auf der Jagd nach diesen Elementen beschossen Forscher fleißig Uranproben mit langsamen Neutronen. Die Teilchen, so nahm man an, würden im Urankern stecken bleiben und ihn so zu einem Transurankern anwachsen lassen.

Doch die Versuche, die im Dezember 1938 im Nordflügel des Dahlemer Chemie-Instituts stattfanden, verliefen anders als geplant. Kurz vor Weihnachten hatten Otto Hahn und Fritz Straßmann wiederholt Uranproben dem Neutronenbombardement ausgesetzt. Lise Meitner konnte an diesen Experimenten nicht mehr teilnehmen; wegen ihrer jüdischen Herkunft hatte sie wenige Monate zuvor vor den Nationalsozialisten fliehen müssen und war in Schweden untergekommen.

Kurz vor Weihnachten erreichte sie in Stockholm ein Brief ihres Freundes und Forscherkollegen Otto Hahn, in dem er um eine Ferndiagnose bat: „Es ist nämlich etwas bei den Radiumisotopen, was so merkwürdig ist, daß wir es vorerst nur Dir sagen. Es könnte noch ein höchst merkwürdiger Zufall vorliegen. Aber immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: Unsere Ra[dium]- Isotope verhalten sich nicht wie Ra[dium], sondern wie Ba[rium] […] Vielleicht kannst Du irgend eine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Ba[rium] zerplatzen kann.“

Der Befund war verwirrend. Denn wären die Versuche verlaufen wie geplant, so hätte als Nebenprodukt Radium nachweisbar sein müssen. Stattdessen war Barium entstanden, ein Element mit einer sehr viel geringeren Kernmasse als Uran. Zusammen mit ihrem Neffen, dem Physiker Otto Robert Frisch, suchte Lise Meitner nach einer Erklärung. Nach einem ausgedehnten Waldspaziergang stand für die beiden fest: Der Urankern war durch den Neutronenbeschuss keineswegs gewachsen. Im Gegenteil: Er war gesprengt worden.

Das Barium war also tatsächlich ein Spaltprodukt des Urans, entstanden unter Freisetzung einer enormen Energiemenge. Otto Hahn wurde für die Entdeckung der Kernspaltung 1944 der Nobelpreis für Chemie zuerkannt. Lise Meitner und Fritz Straßmann dagegen gingen leer aus – eine Entscheidung, die auch heute noch für Diskussionsstoff sorgt.

Nach dieser epochalen Entdeckung existierte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Dahlem nur noch wenige Jahre. Die Luftangriffe in der Nacht auf den 16. Februar 1944 verwüsteten große Teile des Gebäudes, darunter Otto Hahns Arbeitszimmer. Was übrig blieb, verlagerte man in stillgelegte Textilfabriken nach Tailfingen in Württemberg.

Im April 1945 wurde Otto Hahn dort von den Alliierten festgenommen und zusammen mit neun weiteren Wissenschaftlern in England interniert. Auch wenn Hahn später betonte, dass sein Institut lediglich Grundlagenforschung betrieb, so flossen die Ergebnisse zweifellos auch in geheime Projekte wie den „Uranverein“ ein, der zeitweise dem Heereswaffenamt unterstand und in dem die militärische Nutzung der Kernenergie erforscht wurde.

An seinen Ursprungsort kehrte das Institut nicht mehr zurück. Stattdessen wurde es nach dem Krieg als Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz wiedereröffnet. Wie Tailfingen lag auch Mainz in der französischen Besatzungszone; Frankreich wollte die Forschungsstätte in seinem Zuständigkeitsbereich behalten. Mit der Eröffnung eines Neubaus am 9. Juli 1956 erhielt sie den Zusatznamen „Otto-Hahn-Institut“.

Das alte Dahlemer Institutsgebäude an der Thielallee 63 beherbergt heute als „Hahn-Meitner-Bau“ das Biochemische Institut der Freien Universität Berlin. Drei Bronzetafeln erinnern dort an die Kernspaltung und ihre Entdecker: „Diese Tat hat der Erforschung der Materie und des Weltalls neue Wege eröffnet und die Verwendung der Energie der Atomkerne dem Menschen in die Hand gegeben.“

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