Das gute Gefühl vor Gericht

Max-Planck-Forscher untersuchen Probleme intuitiver Urteile von Richtern, Schöffen und Jurymitgliedern

18. August 2010

Wie können zwei Gerichte wie jüngst beim Fall des Fernsehwetterfroschs Jörg Kachelmann geschehen aufgrund der gleichen Aktenlage zu verschiedenen Ergebnissen kommen? Dahinter steckt weder Willkür, noch Wahnsinn. "Vielmehr liegt es schlicht daran, dass sie die Beweise unterschiedlich werten. Wenn Richter, Schöffen oder Geschworene ihre Entscheidung treffen, spielen nicht immer nur rein rationale Erwägungen eine Rolle, so Christoph Engel, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Von Haus aus Jurist verlässt der Wissenschaftler in seiner Forschung gern die Grenzen seiner Disziplin und untersucht die Erkenntnisprozesse und das Verhalten von Menschen im Gerichtssaal in Hinblick auf die Rechtsnorm. "Können wir intuitiven Urteilen trauen?", lautete die Kernfrage einer Studie, die im "Journal of Empirical Legal Studies" erscheinen wird. Gemeinsam mit dem Psychologen Andreas Glöckner hatte Engel das Urteilsverhalten von 245 Studierenden der Universität Erfurt im Experiment getestet. Ihr Ergebnis gibt Anlass zu gemischten Gefühlen.

Gemeinsam mit Glöckner, der die Forschergruppe "Intuitive Experts" an dem Bonner Institut leitet, hatte Engel Studenten gebeten, in die Rolle eines Richters oder Geschworenen zu schlüpfen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten anhand eines Fallbeispiels unter zwei Beweisstandards befinden, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. In mehreren Durchläufen variierten die Forscher dabei die Rahmenbedingungen. Eine Gruppe erhielt die Instruktion, die im amerikanischen Zivilprozess üblich ist. Sie sollten verurteilen, wenn "das Übergewicht der Beweise" gegen den Angeklagten sprach. Eine zweite Gruppe sollte dagegen nur verurteilen, wenn die Schuld "jenseits vernünftiger Zweifel" lag. Außerdem variierte das Experiment den Beweiswert mehrerer Beweismittel und untersuchte deren Einfluss auf Urteile.

Mit diesen Experimenten wollten Engel und Glöckner herausfinden, ob und inwieweit bei der Urteilsfindung genutzte intuitiv-automatische Prozesse rechtlich unerwünschte Effekte mit sich bringen. Eine Frage war, ob der vom Gesetzgeber in einigen Ländern gewollte Unterschied zwischen den Beweismaßen durch diesen mentalen Prozess überspielt wird. Denn wie Psychologen und Kognitionsforscher herausgefunden haben, reagieren Entscheidungsträger vor Gericht nicht anders als gewöhnliche Menschen in Alltagssituationen, in denen aufgrund komplexer oder lückenhafter Faktenlage rein rationales Abwägen nicht möglich ist. Sie lösen das Problem mit Hilfe eines teilweise intuitiv-automatischen Entscheidungsprozesses, bei dem die Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle mit rationalen Erwägungen kombiniert werden.

Doch was im Verlauf der Menschheitsgeschichte so manchem in brenzligen Situationen das Leben rettete, weil er zum Beispiel nicht lange darüber philosophierte, ob Brummgeräusche aus einer Höhle tatsächlich gefährlich sein können, oder heutige Zeitgenossen davor bewahrt, im Supermarkt vor dem überbordenden Warensortiment in Entscheidungslosigkeit zu erstarren, erscheint aus Sicht eines Rechtsforschers als Strategie der Urteilsfindung im Gerichtssaal nicht unproblematisch. Denn zugunsten der Stimmigkeit der Geschichte können die Originalinformationen verfälscht werden. "So lange es darauf für meine Entscheidung nicht ankam, denke ich, dass Zeugenaussagen relativ verlässlich sind", beschreibt Engel solche Kohärenz-Verschiebungen mit einem klassischen Beispiel aus dem Gerichtssaal: "Nun erfahre ich, dass ich einen Fall entscheiden soll, in dem es einen einzigen Zeugen gibt. Er belastet den Angeklagten. Auf Grund der übrigen Beweismittel habe ich aber ziemliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Dann kann ich meine Gesamtüberzeugung dadurch herstellen, dass ich meine Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Zeugenaussagen verstärke - wohlgemerkt, ohne dass mir diese Veränderung der Bewertung bewusst geworden wäre." Bei ihren Experimenten zum Urteilsverhalten aus rechtlicher und psychologischer Sicht sagten die beiden Bonner Forscher ihren Versuchspersonen zunächst nicht, dass sie einen juristischen Fall entscheiden sollten. Sie präsentierten die späteren Beweismittel zunächst in neutraler Einkleidung und fragten nach dem Beweiswerts, etwa wie verlässlich die Aussage einer Person ist, die am Ort des Geschehens gewesen war.

Danach erhielten sie Informationen über einen Fall, bei dem ein Mitarbeiter einer Firma beschuldigt wurde, Geld aus dem Tresor entwendet zu haben, der unter anderem eine Zeugenaussage enthielt. Im Anschluss daran sollten sie sagen, ob sie den Angeklagten verurteilen oder freisprechen würden, und bewerteten wiederum die Vorhersagekraft der verschiedenen Informationen. Zum Abschluss mussten die Probanden in einem Fragebogen angeben, nach welcher Methode sie ihre Entscheidungen getroffen haben: mithilfe mathematischer Kalkulationen, "aus dem Bauch heraus" oder indem sie sich nach dem Kohärenz-Modell aus den Informationen eine plausible Geschichte konstruiert hatten.

Es zeigte sich wie in vorangegangenen Untersuchungen, dass auch bei rechtlichen Urteilen die Bewertung von Informationen durch automatisch-intuitive Prozesse verzerrt wird: Personen konstruieren kohärente Interpretationen. Informationen werden dabei so wahrgenommen, dass diese das eigene Urteil stärker unterstützen, als dies objektiv der Fall ist. Dieses Phänomen der Kohärenzverschiebung zeigte sich beispielsweise darin, dass die durch ein und dieselbe Person abgegebene Bewertungen der Zuverlässigkeit von Zeugen vor und nach dem Urteil sich systematisch unterscheiden. Studierende die im Sinne der Zeugenaussage entschieden, erhöhten ihre Bewertung der Zuverlässigkeit von Zeugen. Studierende, die ein Urteil fällten, welches der Zeugenaussage entgegenlief reduzierten die Einschätzung. "Wir fanden allerdings heraus, dass Beweismaßinstruktionen nicht von Kohärenzverschiebungen untergraben werden", berichten die Forscher. "Das hatten wir eigentlich befürchtet", sagt Engel. "Wir nahmen an, dass der Beweisstandard die Verurteilungsrate nicht beeinflusst." Doch entschieden sich die Erfurter Studierenden unter dem zivilrechtlichen "Übergewicht der Beweise" ("preponderance of the evidence") mehr als doppelt so häufig für einen Schuldspruch als unter dem strafrechtlichen Standard "ohne vernünftigen Zweifel" ("beyond a reasonable doubt").

Dagegen fanden die beiden Forscher ihre dritte Hypothese bestätigt: Prozentzahlen und objektive Wahrscheinlichkeiten spielen in solchen Entscheidungssituationen kaum eine Rolle. Jedenfalls konnten sie selbst dann, als sie die Wahrscheinlichkeit der belastenden Beweismittel deutlich so veränderten, dass prozentual alles auf einen Schuldspruch hinwies, keine signifikanten Effekte auf die Verurteilungsrate feststellen. Dass Statistiken und objektive Wahrscheinlichkeiten eine so geringe Rolle bei richterlichen Entscheidungen spielen, hält Engel "aus normativer Sicht schon für sehr bedenklich". Es müssten ja nicht gleich Algorithmen für Richter, Geschworene oder Schöffen entwickelt werden, meint er. "Es genügt ja schon, wenn die Statistiken im Gerichtssaal so verständlich präsentiert werden, dass sie auch von Laienrichtern aufgenommen werden können", schlägt er zur Lösung des Problems vor. Im Zusammenspiel mit der Intuition habe man dann ganz gute Voraussetzungen für einen sinnvollen Umgang mit Recht und Gesetz. Außerdem fehlt es ja an Alternativen, gibt er zu bedenken. "Wer glaubt, dass Juristen etwas beweisen können wie ein Naturwissenschaftler, befindet sich auf dem Holzweg."

Zur Redakteursansicht