Astrophysik geht an die Knochen
Um das Osteoporose-Risiko besser zu erfassen, nutzen Wissenschaftler erfolgreich Methoden zur Kartierung des Weltalls
Was haben Galaxien und Knochen gemein? Auf den ersten Blick gar nichts. Verkleinert man jedoch das Weltall auf rechnerischem Weg und schrumpft die Sternsysteme zu Punkten, kommt ein Bild zum Vorschein, das frappierend der Struktur eines durch Osteoporose geschädigten Knochens gleicht. Darauf beruht ein Verfahren, das Forscher des Garchinger Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik zusammen mit Medizinern des Münchner Klinikums rechts der Isar entwickelt haben. Damit lässt sich das Osteoporose-Risiko wesentlich präziser erfassen als bisher.
Osteoporose, auch Knochenschwund genannt, steht als Volkskrankheit zunehmend im Zentrum des öffentlichen Interesses. Charakteristisch für dieses Leiden ist eine verminderte Knochenmasse, die mit porösen Umbauten in der Mikroarchitektur des Knochens einhergeht. Beides führt dazu, dass der Knochen an Festigkeit verliert und leichter bricht. "Etwa 30 Prozent aller Frauen in Europa und Nordamerika sind heute schon davon betroffen", sagt Christoph Räth. "Die Hauptkomplikationen bei der Osteoporose sind beispielsweise das Zusammenbrechen von Wirbeln oder Brüche des Oberschenkelknochens."
Dass sich Christoph Räth mit dem Medizinthema so gut auskennt, mag man angesichts seiner Profession kaum vermuten: In der Abteilung Theorie und komplexe Plasmen am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching beschäftigt er sich mit Fragen der theoretischen Astrophysik. Wie, so eine seiner Fragestellungen, ist nach dem Urknall das heutige Weltall entstanden? Damals gab es nichts weiter als eine heiße Ursuppe, erfüllt mit Energie und ersten, einfachen Teilchen. Darin liefen physikalische Prozesse ab, die sich in der Rückschau bisher nur erahnen lassen - und die mehr bergen als den Schlüssel zum Verständnis des Universums.
Das Ergebnis dieser Prozesse ist der Kosmos, wie er sich den heutigen Messungen darstellt: mit großen Massen, konzentriert in Galaxien, zwischen denen sich riesige, fast leere Räume erstrecken. Mitte der 1980er-Jahre wurde offenbar, dass das All einer Schaumstruktur gleicht. Die Mehrzahl der Galaxien liegt auf virtuellen Kugelschalen, die aneinander kleben wie in einem kosmischen Schwamm.
Der Schaum erweist sich als äußerst komplex. Um seine Strukturen zu charakterisieren, müssen die Astrophysiker für ihre Computermodelle verfeinerte mathematische Beschreibungen entwickeln: Sie geben für jeden Raumpunkt an, ob er isoliert steht oder zu einer linien- oder gar flächenartigen Struktur gehört, und wie stark er mit seiner Umgebung vernetzt ist. Beides liefert ein Maß für die räumliche Anordnung und Verteilung der Galaxien.
Dass sich derartige Analysen eventuell auch auf die Struktur von Knochen anwenden ließen, diese Idee hatte Thomas Link, Oberarzt am Münchner Klinikum rechts der Isar. Der Mediziner hatte sich schon seit Jahren mit dem Thema Osteoporose beschäftigt und wusste, dass das Innere der kranken Knochen auffallend den kosmischen Schwammstrukturen gleicht. Link hatte auch gehört, dass am Garchinger Max-Planck-Institut fachübergreifende Kooperationen mit Medizinern schon Tradition haben: Dabei waren mathematische Erkennungsverfahren für Hautkrebs entwickelt worden, ferner Methoden, das Volumen von Tumoren zu bestimmen, sowie spezielle Analysemethoden für Elektrokardiogramme, mit deren Hilfe sich Risikopatienten ermitteln lassen. Und so kam Link schließlich an Räth - und ein Osteoporoseprojekt in Gang.
Osteoporose, so schätzen Fachleute, verursacht allein in Deutschland Kosten von drei bis vier Milliarden Euro pro Jahr. "Und in unserer alternden Gesellschaft rechnet man mit einer dramatischen Zunahme der Osteoporose und den damit verbundenen Folgeschäden in den kommenden Jahren", sagt Räth. Es wäre also gesundheitlich und volkswirtschaftlich erstrebenswert, eine zuverlässige Diagnose und wirksame Medikamente gegen diese Krankheit zu finden.
Zur Diagnose des Knochenschwunds dient bislang eine Knochendichtemessung, die den Mineralgehalt des Knochens angibt. Allerdings ist dieses Verfahren nur eingeschränkt anwendbar: So gibt es Patienten mit normaler Knochendichte, die trotzdem osteoporotische Frakturen erleiden - und umgekehrt auch Patienten mit zu geringer Knochendichte, die keine Brüche erleiden. Eine schärfere Charakterisierung der Knochenstruktur und damit des Bruchrisikos wäre also wünschenswert.
Link und Räth analysieren zunächst die Knochenstruktur von Patienten mittels hoch auflösender Magnetresonanztomografie: Sie bildet wasserstoffhaltige Gewebe ab und liefert, da die Hohlräume des Knochens mit Knochenmark gefüllt sind, ein Negativbild der knöchernen Substanz. Auf die so dargestellte schwammartige Struktur wenden die Physiker dann dieselben Verfahren an, die für die Analyse der Weltallbilder entwickelt wurden, und gewinnen damit Aufschluss über die räumliche Architektur des Knochens - im Unterschied zur Knochendichtemessung, die nur den Mineralgehalt insgesamt erfasst.
Das Ergebnis: Trägt man beispielsweise die Verteilung der Skalierungsindizes von unterschiedlichen Personen auf, ergibt sich für gefährdete Patienten eine Kurve, die gegenüber der Normalverteilung verschoben ist. Christoph Räth: "Damit haben wir ein Maß an der Hand, das aussagt, wie anfällig der Knochen für Brüche ist." Mehr als drei Jahre intensiver Forschung haben inzwischen bestätigt, dass dieses Maß recht zuverlässig ist. Mit entsprechend hoher Motivation wird nun daran gearbeitet, das Verfahren weiter zu verbessern und zu standardisieren. Das Ziel ist außerdem, auch Auf- und Abbauprozesse im Knochen so genau zu berechnen, dass sich die Wirkung von Medikamenten sowie von Trainingsmethoden schon im Voraus abschätzen lässt.