Metalle am Bildschirm gemeinsam in Form gebracht

Max-Planck-Institut für Eisenforschung und Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik gründen Arbeitsgruppe "Simulation der Mechanik von Vielkristallen"

24. November 2005

Erkenntnisorientierte Grundlagenforscher und Wissenschaftler aus der angewandten Forschung beschreiten neue Wege der intensiven Kooperation: Das Max-Planck-Institut für Eisenforschung, Düsseldorf, und das Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik, Freiburg, gründen eine gemeinsame Arbeitsgruppe zum Thema "Simulation der Mechanik von Vielkristallen".

"Auf zwei parallel verlaufenden Entwicklungsschienen hat das Gebiet der Mechanik von Vielkristallen jetzt die wissenschaftlich-technische Reife erlangt, die es erlaubt, entsprechende neue Simulationsverfahren für technische Innovationen vor allem für den Flugzeug- und Automobilbau sowie die Medizintechnik nutzbar zu machen", erklärt Prof. Dierk Raabe, Direktor und Leiter der Abteilung "Mikrostrukturphysik und Umformtechnik" am Max-Planck-Institut für Eisenforschung. Er ist gemeinsam mit Prof. Peter Gumbsch vom Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg Sprecher der neuen Initiative. "Die beiden Forschungsorganisationen sind die Garanten für einen erfolgreichen Brückenschlag direkt von den Grundlagen zu hochinnovativen Simulationsverfahren."

"Im Sinne des ‚Pakts für Forschung und Innovation’ unterstützt die Max-Planck-Gesellschaft ihre Institute bei der Bildung von strategisch wichtigen Kooperationen mit universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung hat für den Standort Deutschland hohe wissenschaftspolitische Bedeutung", stellt Max-Planck-Präsident Prof. Peter Gruss dazu fest. Auf direktem Weg sollen damit die neuesten Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute für Industrie und Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Weitere Kooperationsvorhaben im Bereich "Mathematik/Informatik" mit Fraunhofer-Instituten will die Max-Planck-Gesellschaft aus Mitteln ihres Strategischen Innovationsfonds künftig fördern.

Vorbereitet wird das Projekt "Simulation der Mechanik von Vielkristallen" mit einem wissenschaftlichen Workshop im Frühjahr 2006. Mit einer Anschubfinanzierung von rund 3,4 Millionen Euro für Personal- und Sachinvestitionen ist die gemeinsame Arbeitsgruppe auf zunächst drei Jahre angelegt. Bei erfolgreicher Evaluierung durch ein Expertenteam soll eine zweite Umsetzungsphase folgen.

Organisiert ist die neue Arbeitsgruppe in vier Projektbereichen. Zwei werden am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf und zwei am Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg eingerichtet. Zweimal im Jahr treffen sich alle wissenschaftlichen Mitarbeiter der Gruppe zu intensiven Projektdiskussionen abwechselnd an einem der beiden Standorte, außerdem ist einmal im Jahr ein internationales Symposium beziehungsweise ein Industrieworkshop vorgesehen.

Moderne metallische Werkstoffe haben es in sich. Weniger durch ihre chemische Zusammensetzung; vielmehr bestimmt die innere Struktur ihre speziellen Eigenschaften. Denn trotz ihrer glatt erscheinenden Oberfläche sind Metalle keineswegs gleichmäßig, sondern aus einer Vielzahl mikroskopisch kleiner Kristalle - so genannte Körner - zusammengesetzt. Sie wachsen durch Erstarrungs- und Umwandlungsvorgänge beim Abkühlen in der Metallschmelze in Form einer Vielzahl von Kristallisationskeimen. Deren Achsen sind allerdings - in direkter Konkurrenz zueinander - mehr oder weniger zufällig ausgerichtet. Je nachdem, wie die Grenzen zwischen diesen Körnern entstanden und verteilt sind, verändern sich die mechanischen Eigenschaften des Metalls, zum Beispiel seine Härte oder Verformbarkeit.

Zwar können durch weitere Fertigungsschritte - wie etwa schmieden, walzen, strecken oder tiefziehen - die Kristalle in Metallen ausgerichtet werden. Wegen der bei solchen Formgebungsprozessen einwirkenden Kräfte ändern diese Körner jedoch ständig ihre kristallografische Orientierung in unterschiedlichen Bereichen. So entstehen durch komplizierte Wechselwirkungen beispielsweise innere Spannungen zwischen benachbarten Kristallen. Metalle können deshalb nicht in jede Richtung beliebig umgeformt werden; sie zeigen ein stark richtungsabhängiges - anisotropes - Umformverhalten, sagen die Fachleute.

Seit langem wird mit Hilfe von Computerberechnungen versucht, das komplizierte Geschehen in metallischen Werkstoffen bei den durch unterschiedlich "treibende" Kräfte erzwungenen Formänderungen nachzuvollziehen. Denn moderne Leichtbauwerkstoffe wie Aluminium, hochfeste Stähle, Verbundwerkstoffe, Magnesium ebenso wie beschichtete Materialien werden vor allem für den Automobilbau, in der Elektrotechnik sowie in der Luft- und Raumfahrtindustrie mit immer engeren Toleranzen hinsichtlich Abmessungen und Eigenschaften umgeformt.

Dabei möchte der Ingenieur zum einen möglichst wenig Material einsetzen und hohe Formtreue bei der Umformung gewährleisten, gleichzeitig aber auch einheitliche mechanische Eigenschaften erhalten, Risse vermeiden und für das gesamte Bauteil noch dazu beispielsweise eine gleichmäßige Blechstärke erreichen. Für die Fertigungstechnik ist also die verlässliche Simulation von Umformvorgängen kristalliner Werkstoffe von entscheidender Bedeutung: Noch bevor die Produktion beginnt, lässt sich durch Simulation mit Hilfe von Computern das Verhalten eines Bauteils vorausberechnen und zeigen, ob ein Werkstück den Belastungen standhält. Mit solchen Vorhersagen können vor allem für Komponenten der Mikroelektronik oder Medizintechnik, aber auch für meterlange Bauteile bei der Kraftwerkstechnik spätere Schäden vermieden werden.

Allerdings: "Bisherige Rechenmodelle, welche die Mikrostrukturphysik der Metalle im Detail berücksichtigen, bringen zwar sehr gute Ergebnisse - aber erst nach wochenlangen Rechenabläufen. Denn so ein Bauteil besteht aus mehreren Milliarden Einzelkristallen unterschiedlicher Orientierung, Form und Größe, die sich in komplizierten Prozessen wechselseitig beeinflussen und daher unmöglich alle einzeln verfolgt werden können", erklärt Prof. Dierk Raabe vom Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung. "Ein von uns entwickeltes neues Verfahren, das in vertretbarer Rechenzeit zuverlässige Ergebnisse liefert, schafft mit einem intelligenten Mix aus Kristallographie, Metallphysik und Variationsmathematik den Durchbruch."

Dazu messen die Max-Planck-Wissenschaftler zunächst mit Röntgen- oder Elektronenbeugungsmethoden die Textur genannte gesamte Orientierungsverteilung der Körner. Dabei werden Kristalle, die zum Beispiel beim Walzen des Metalls ausgerichtet worden sind, statistisch in Gruppen, so genannte Texturkomponenten zusammengefasst. Dann berechnen die Düsseldorfer Eisenforscher mit Hilfe der Finite-Elemente-Methode, wie die Texturkomponenten an jedem Punkt eines als Gitter angenäherten Modells den Umformvorgang beeinflussen.

Bei dieser "Texturkomponenten-Kristallplastizitäts-Finite-Elemente-Methode" wird also im Prinzip Schritt für Schritt ermittelt, wie die orientierten Kristalle an jedem Gitterpunkt durch die bei der Verformung wirkenden Kräfte in unterschiedlichen Bereichen gedreht werden.

Für dieses neue Verfahren mussten drei zwar schon bekannte, aber getrennt voneinander erarbeitete Konzepte aus der Kristallographie (Texturkomponenten), der Metallphysik (Kristallplastizität) und der Variationsmathematik (Finite-Elemente-Methode) zusammengeführt werden. "Weil nun nicht mehr die Wechselwirkung einzelner Kristalle im Detail berechnet wird, sondern lediglich die Änderung der sehr viel einfacher zu erfassenden, abstrakten Größe ‚Texturkomponente’, spart die neue Methode viel Rechenzeit", erläutert Prof. Raabe

Im Vergleich zu den zeitraubenden "Kristall-für-Kristall-Berechnungen" arbeitet die in den vergangenen Jahren von der Abteilung "Mikrostrukturphysik und Umformtechnik" am Max-Planck-Institut für Eisenforschung entwickelte Computersimulation etwa 100- bis 1000-mal schneller; die Darstellung eines komplizierten Umformvorgangs von metallischen Werkstoffen gelingt am Bildschirm schon nach wenigen Stunden.

Zur Redakteursansicht