Was unterscheidet Stadt- von Waldvögeln?

Max-Planck-Forscher zeigen, dass das jahreszeitlich frühe Brüten von Stadt-Amseln nicht nur umweltbedingt, sondern auch genetisch verursacht ist

5. Oktober 2004

Stadtvögel starten im Frühling früher mit Partnersuche und Brüten als ihre Artgenossen im Wald. Für das frühe Brüten von Stadtvögeln bieten sich zwei Erklärungen an: Zum einen könnten die Unterschiede auf den unterschiedlichen Umweltbedingungen beruhen, denen Stadt- und Waldvögel ausgesetzt sind; zum anderen könnten sie auch auf einer unterschiedlichen genetischen Ausstattung der beiden Populationen beruhen. Jesko Partecke und Eberhard Gwinner vom Max-Planck Institut für Ornithologie in Andechs/Seewiesen und Thomas Van’t Hof von der Wright State University/USA haben jetzt am Beispiel der Amsel nachgewiesen, dass nicht nur stadtspezifische Umwelteinflüsse, sondern auch genetische Unterschiede für das frühe Brüten der Stadtamsel verantwortlich sind. Die in die Stadt eingewanderten Vögel haben sich also auch durch mikroevolutionäre Prozesse an die besonderen Bedingungen der Stadt angepasst (Proc. R. Soc. Lond. B (2004) 271, 1995-2001, DOI 10.1098/rspb.2004.2821, 2004).

Wer kennt sie nicht, die Amsel, die jedes Jahr zeitig mit ihrem Gesang von Straßenlaternen oder Dachantennen den Frühlingsbeginn verkündet. Doch das war nicht immer so: Noch vor etwa 200 Jahren war die Amsel ein scheuer Waldbewohner, den man kaum zu Gesicht bekam. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begann die Amsel in zunehmendem Maß Dörfer und Städte zu besiedeln, aus denen sie heutzutage nicht mehr wegzudenken ist. Und im Zuge der Verstädterung haben sich die Lebensweisen von in der Stadt und im Wald lebenden Amseln in vielfältiger Weise verändert.

Dass Stadtamseln im Vergleich zu Waldamseln früher im Jahr mit ihrem Brutgeschehen beginnen, ist schon seit längerem bekannt. Welche Ursache das frühe Brüten hat, war bisher aber unbekannt. Eine Grundfrage in der Forschung ist daher: Sind diese Unterschiede Resultat direkter physiologischer Anpassungen an die unterschiedlichen Umweltbedingungen oder der genetischen Ausstattung dieser Tiere?

Diese Frage hat jetzt da deutsch-amerikanische Ornithologen-Team am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Andechs/Seewiesen untersucht. Die Forscher zogen Amsel-Nestlinge aus München und aus einem 40 km von München entfernten Waldgebiet von Hand auf und hielten beide Gruppen in einem Vogelraum über einen Zeitraum von zwei Jahren zusammen. Auf diese Weise lebten die Vögel sowohl während ihrer Entwicklungsphase wie auch später, während des gesamten Experiments, unter exakt denselben kontrollierten Umweltbedingungen. Während der zweijährigen Studie verfolgten die Wissenschaftler die saisonale Entwicklung der Gonaden (Keimdrüsen) und sammelten Blutproben für die Bestimmung des luteinisierenden Hormons - ein Hormon, das die saisonale Entwicklung der Gonaden und die Bildung der Geschlechtshormone stimuliert.

Das Resultat dieser Studie war überraschend: Einerseits konnten die Forscher zeigen, dass vornehmlich die spezifisch urbanen Umwelteinflüsse für das deutlich frühere Brüten der Stadtamseln im Freiland verantwortlich sind. Denn die im Freiland drastischen Unterschiede im Gonadenwachstum waren unter Laborbedingungen deutlich reduziert oder sogar im zweiten Jahr ganz verschwunden. Auf der anderen Seite gab es dennoch klare Unterschiede im Gonadenwachstum und in der Hormonausschüttung zwischen den beiden Laborpopulationen. So begannen die männlichen Stadtamseln - auch unter identischen Laborbedingungen - im ersten Jahr jahreszeitlich früher als ihre ländlichen Artgenossen mit dem Gonadenwachstum und der Hormonausschüttung. Zudem beendeten Amsel-Weibchen aus der Stadt ihre reproduktive Phase früher als die Weibchen aus dem Wald. Diese Befunde lassen vermuten, dass zusätzlich zu den Umweltbedingungen auch genetische Unterschiede vorhanden sind und sehr wahrscheinlich zu den Unterschieden im Brutbeginn beitragen.

Welche Umweltbedingungen nun konkret für die frühe Brutsaison der Stadtamseln verantwortlich sind, ist noch ungeklärt. Die Ornithologen konnten aber mit ihrem Experiment schon zwei potentielle Faktoren ausschließen: Zusätzliche Nahrung, wie zum Beispiel durch die Winterfütterung, und die milderen Temperaturen in Städten können als alleinige Faktoren ausgeschlossen werden. Aber es gibt noch eine Reihe weiterer Einflüsse, die eine Rolle spielen könnten: Zum einen könnte die hohe Populationsdichte von Stadtamseln als soziale Stimulans das Paarungsverhalten früher im Jahr anregen. Zum anderen könnte die Überwinterungsstrategie der Stadtamsel ein Grund sein. So gehen die Forscher davon aus, dass ein größerer Teil der Stadtamseln auch in den Städten überwintert, während Waldamseln den Winter noch größtenteils im Süden verbringen. Die Standvögel wären somit in der Lage, früher im Jahr mit der Reproduktion zu beginnen. Als weitere Ursache kommt noch das Kunstlicht in den Städten in Frage. Seit langem weiß man, dass die Zunahme der Tageslänge im Frühjahr das reproduktive System bei Vertebraten ankurbelt. Stadtvögel sind jedoch - zusätzlich zu der natürlichen Veränderung der Tageslänge - auch noch dem oft intensiven Kunstlicht von Straßenlaternen und Häusern ausgesetzt.

Weitere Experimente sind nötig, um zu klären, welche Auswirkungen die Verstädterung auf die dort lebenden Tierarten hat.

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