Wirtschaftspolitik nach der Währungsunion - eine Renaissance der Nachfragepolitik?
Neue Studie des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung zeigt: Mitgliedsländer passen sich gut an, aber das reicht nicht aus
Seit die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion 1999 in Kraft getreten ist, bestimmt die Europäische Zentralbank die Zinsen für alle Mitgliedsländer. Damit stellt sie die Nationalstaaten vor eine doppelte Herausforderung: Sie müssen ohne eine eigene Geldpolitik auskommen und gleichzeitig neuartige Destabilisierungen ihrer Konjunktur ausgleichen. Eine Studie von Henrik Enderlein am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung zeigt, dass sich die Mitgliedsländer zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut an die neue Situation angepasst haben. Doch dies reicht nicht aus, um die Probleme zu bewältigen. Vor allem Deutschland bereitet die Währungsunion wegen der hohen Realzinsen und der dezentralen Finanzverfassung Schwierigkeiten. Eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik könnte die Lösung sein - sie ist allerdings kaum durchzusetzen. Eine Wiederbelebung der Nachfragepolitik wird zurzeit diskutiert. Hierzu liefert die Studie einen theoretisch fundierten Beitrag.
"One size fits all" - nach diesem Prinzip legt die Europäische Zentralbank die Zinsen für die Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion fest. Dabei orientiert sie sich an den wirtschaftlichen Durchschnittswerten der Eurozone. Das Ergebnis ist für die einzelnen Nationalstaaten alles andere als maßgeschneidert: Für manche Länder sind die Realzinsen zu hoch, für andere zu niedrig. Gerade Deutschland muss seit dem Beginn der Währungsunion mit überhöhten Realzinsen zurechtkommen. Die unterschiedlich hohen Realzinsen bremsen oder beschleunigen die Konjunktur in den einzelnen Staaten. Da die Mitgliedsländer jedoch die Geldpolitik an die europäische Ebene abgegeben haben, können sie nur noch in der Finanz- und der Lohnpolitik gegensteuern.
Wie aber können diese Instrumente zur Stabilisierung der Wirtschaftszyklen eingesetzt werden? Um diese Frage dreht sich die aktuelle Debatte über eine Renaissance der Nachfragepolitik Seit Mitte der 1980er Jahre waren Finanz- und Lohnpolitik bei der Stabilisierung der Konjunktur so gut wie überflüssig, da die Zentralbanken und damit die Geldpolitik diese Aufgabe beinahe vollständig übernommen hatten. Die Währungsunion jedoch stellt die zyklische Wirtschaftspolitik in den Staaten der Eurozone vor neue Herausforderungen. Wie haben die Länder darauf reagiert?
Die Antwort von Henrik Enderlein, Autor der Studie und mittlerweile Juniorprofessor an der Freien Universität Berlin: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion haben zwar versucht, ihre wirtschaftspolitischen Institutionen an die neue Situation anzupassen - aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Dafür hat Enderlein drei Gründe ausgemacht. Zum einen war das Zusammenspiel von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik in den einzelnen Ländern schon vor der Währungsunion verschieden. Zum anderen unterscheiden sich die strukturellen Faktoren, die bestimmen, ob ein Land nach dem Beitritt mit zu hohen oder zu niedrigen Realzinsen konfrontiert ist. Und schließlich ist auch das historisch gewachsene, institutionelle Zusammenspiel zwischen den wirtschaftspolitischen Akteuren nicht in allen Ländern gleich.
In seiner Studie hat Enderlein drei Anpassungsmuster beobachtet. Länder mit hohen Realzinsen und geringem Wachstum konzentrieren ihre Reformbemühungen auf die Finanzpolitik, weil sie die Lohnpolitik nicht zur Stabilisierung einsetzen können. Hierzu zählen Frankreich und Deutschland. Besonders in Deutschland rückt die aktuelle Diskussion über eine nachfrageorientierte Erhöhung der Staatsausgaben ein weiteres Problem in den Vordergrund: die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern in der Finanzpolitik. Um die Herausforderungen der Währungsunion zu meistern, müsste die Ausgabenstruktur der Länder und Gemeinden reformiert werden. Eine Zentralisierung ist in Deutschland jedoch schwer durchzusetzen, weil der Föderalismus historisch stark verankert ist.
Bei Ländern mit niedrigen Realzinsen und hohem Wachstum dagegen ist nur ein Zusammenspiel der Finanz- und der Lohnpolitik sinnvoll; deshalb werden beide angepasst. Das betrifft unter anderem Irland, Spanien und Portugal. Dort sind gleichzeitig nationale Stabilitätspakte und eine stärkere Zentralisierung der Lohnpolitik zu beobachten. Und in Staaten, die schon vorher gut auf die Währungsunion vorbereitet waren, wirkt sich der Beitritt gar nicht auf die wirtschaftspolitischen Institutionen aus. Das ist vor allem in den Niederlanden der Fall. Sie waren bereits vor der europäischen Währungsunion faktisch eine Währungsunion mit Deutschland eingegangen und sind seit den 1980er Jahren ohne nationale Geldpolitik ausgekommen.
Insgesamt kommt die Studie zu dem Schluss, dass die meisten Länder die notwendigen Reformen eingeleitet haben. Enderlein bezweifelt jedoch, dass die nationale Anpassung ausreicht, um die Probleme zu bewältigen. Ferner können die nationalen Reformen neue Schwierigkeiten auf der europäischen Ebene verursachen. Beides kann zu einer Europäisierung der Wirtschaftspolitik führen. Allerdings fehlen die Instanzen, um eine solche Politik durchzusetzen, und sie sind auch nicht in Sicht. Weder der Stabilitäts- und Wachstumspakt noch die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, die die EU-Kommission jedes Jahr vorschlägt, können diese Aufgabe übernehmen. Gerade die Probleme mit dem Stabilitätspakt machen die Spannungen zwischen europäischer Wirtschaftspolitik und nationaler Anpassung deutlich. Eine echte Kooperationslösung könnte laut Enderlein nur ein europäischer Finanzausgleich sein, und auch der ist kaum durchzusetzen.
Für seine Studie analysierte Henrik Enderlein die Anpassung der wirtschaftspolitischen Institutionen in zehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion in den 1990er Jahren. Dabei verfolgte er zugleich einen ökonomischen und einen politikwissenschaftlichen Ansatz: Zunächst untersuchte er den wirtschaftlichen Anpassungsdruck und leitete daraus den institutionellen Anpassungsdruck in den einzelnen Ländern ab. Schließlich verglich er die tatsächlichen Reformen mit den erhofften Anpassungen. Die Studie ist als Dissertation am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung entstanden und wurde mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft für herausragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses ausgezeichnet. Rezensionsexemplare erhalten Sie von der Pressestelle des Campus Verlags unter Tel. 069/976516-20.