Zülch-Preis 2004: Scharfer Blick auf Hirnstrukturen und -funktionen
Prof. Dr. Richard Frackowiak, University College London, UK, und Prof. Dr. Nikos Logothetis, Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, Tübingen, Deutschland, erhalten den diesjährigen Zülch-Preis
Zum fünfzehnten Mal vergibt die - von der Max-Planck-Gesellschaft treuhänderisch geführte - Gertrud Reemtsma Stiftung den mit 50.000 Euro dotierten Zülch-Preis für besondere Leistungen der neurologischen Grundlagenforschung. Wie in den vergangenen Jahren wird der Preis auch diesmal geteilt. Geehrt werden zwei Wissenschaftler, die Herausragendes zur Aufklärung von Hirnstrukturen und -funktionen geleistet haben. Prof. Dr. Richard Frackowiak wird ausgezeichnet für seine wissenschaftlichen Arbeiten über die Entwicklung und den Einsatz bildgebender Messverfahren zur Untersuchung kognitiver Leistungen des menschlichen Gehirns. Die von ihm entwickelten Standardisierungsmethoden der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) eröffneten den Einsatz dieser Techniken für die vergleichende Untersuchung komplexer Funktionsabläufe. Prof. Dr. Nikos Logothetis erhält die Auszeichnung für seine grundlegenden wissenschaftlichen Beiträge zur funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT). Durch die Aufklärung der funktionellen Grundlagen des BOLD (Blood Oxygen Level Dependent)-Kontrastes gelang es ihm, Aktivitäten neuronaler Zellverbände mit hoher räumlicher Auflösung sichtbar zu machen.
Die Übergabe des Zülch-Preises durch den Vizepräsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Prof. Dr. Herbert Jäckle findet am 10. September 2004 ab 10.00 Uhr im Isabellensaal des Kölner Gürzenich statt. Die Laudatio auf Prof. Dr. Frackowiak hält Prof. Dr. Wolf-Dieter Heiss, Max-Planck-Institut für neurologische Forschung, Köln, und als Laudator für Prof. Dr. Logothetis konnte Prof. Dr. Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung gewonnen werden.
Professor Richard S.J. Frackowiak, Jahrgang 1950, ging in London zur Schule, studierte Medizin an der Cambridge University und wurde 1983 mit einer - an der MRC-Cyclotron Unit des Hammersmith Hospital in London angefertigten - Arbeit über die quantitative Messung des cerebralen Blutflusses mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie zum Doktor der Medizin promoviert. Ein 1980 von ihm zu diesem Thema veröffentlichter Artikel war ein Jahrzehnt lang die am häufigsten zitierte Publikation auf dem Gebiet des Computereinsatzes in Biologie und Medizin. Die wichtigsten Stationen seiner weiteren wissenschaftlichen Laufbahn: Von 1988 bis 1993 leitete Frackowiak die neurologische Abteilung am Hammersmith Hospital, 1990 wurde er Professor für Neurologie, 1994 übernahm er die Leitung des Welcome Departments für bildgebende Neurowissenschaften am University College London (UCL), 1998 wurde er Direktor des Instituts für Neurologie am UCL und seit 2002 ist er stellvertretender Vorstand dieses Colleges. Frackowiak erhielt hohe wissenschaftliche Auszeichnungen, darunter den Wilhelm Feldberg Foundation Prize (1996) und den Foundation Ipsen Prize (1997).
Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere hatte sich Frackowiak zunächst mit der Untersuchung pathophysiologischer Veränderungen bei unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen beschäftigt. Seine damaligen Arbeiten legten wichtige Grundlagen für die klinische Anwendung der Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Anfang der 90er Jahre wandte er sich dann zunehmend Aktivierungsstudien zur Darstellung von Hirnfunktionen zu. Diese systematisch ausgebauten Untersuchungen verschafften Frackowiaks Arbeitsgruppe bald eine weltweit führende Position auf dem Gebiet der funktionellen Hirnlokalisation. Die bevorzugte Methode bei solchen Forschungen war die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT), die ohne Strahlenbelastung auskommt und sowohl strukturelle als auch funktionelle Bilder hoher räumlicher Auflösung liefert. In seinem Vortrag über "die funktionale Architektur des menschlichen Gehirns", den Frackowiak anlässlich der Preisverleihung hält, beschreibt er, wie der - automatisierte - Prozess der Bilderzeugung und -analyse so standardisiert werden konnte, dass sich seine Ergebnisse zur Anfertigung struktureller und funktioneller Hirnkarten nutzen lassen. Die aufregendste und dramatischste Erkenntnis aus solchen Karten sei die dynamische Plastizität in Funktion und Struktur, die sowohl normale Gehirne als auch solche von Patienten mit neurologischen und neuropsychiatrischen Störungen aufweisen. Neuere Studien erbrachten inzwischen interessante Informationen über die Fähigkeit des Hirns, sich nach Verletzungen und in Verbindung mit Üben und Lernen zu reorganisieren.
Prof. Nikos K. Logothetis, Jahrgang 1950, ist griechischer Staatsbürger. Er studierte Mathematik (Diplom 1977) und Musik (Theorie und Klavier) in Athen sowie Biologie in Thessaloniki (Diplom 1980) und in München. An der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität wurde er 1985 in Human-Neurobiologie promoviert. Von 1985 bis 1990 arbeitete er als Postdoc und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Brain and Cognitive Science Institute des MIT in Cambridge, USA. 1990 wurde er Associate Professor und 1994 Professor am Baylor College of Medicine in Houston, USA. 1996 schließlich berief die Max-Planck-Gesellschaft Logothetis als Wissenschaftliches Mitglied und Direktor der Abteilung für Physiologie kognitiver Prozesse an das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Zu den hohen Auszeichnungen, die ihm verliehen wurden, gehörten der DeBakey Award for Excellence in Science (1996) und der Louis-Jeantet Preis für Medizin (2003).
Logothetis kombiniert unterschiedliche Untersuchungsverfahren miteinander, um immer tiefere Einblicke in das neuronale Hirngeschehen gewinnen zu können. Zwar liefert die bildgebende funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie unter Nutzung der BOLD-Kontraste eine Fülle von Informationen über das Primatenhirn, doch wirft sie auch immer neue Fragen auf. Um sie beantworten zu können, muss die neuronale Organisation des Hirns auf einem Niveau erforscht werden, das mit dieser Technik allein nicht zu erreichen ist - elektrophysiologische, histologische, neurochemische, spektroskopische Verfahren und Methoden der molekularen Bildgebung müssen hinzukommen. In seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Zülch-Preises beschreibt Logothetis die multimodale Methodologie, die er bei seinen Versuchen mit Affen eingesetzt hat und die es ermöglichten, Hirnstrukturen bis in den Millimeterbereich aufzulösen.
Mit einer solchen Methodenkombination gelang Logothetis und Mitarbeitern 2001 ein entscheidender Durchbruch: Sie konnten klären, welche neuronalen Aktivitäten durch die fMRT-BOLD-Messungen eigentlich wiedergegeben werden. Bei diesem Verfahren werden die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von arteriellem, sauerstoffreichem und venösem, sauerstoffarmem Blut dazu genutzt, im Hirngewebe die Veränderungen des Blutes zu messen, die durch eine erhöhte Neuronenaktivität ausgelöst werden. Dabei blieb allerdings ungeklärt, ob diese Änderungen auftreten, wenn die Neuronen "feuern", d.h. ein Ausgangssignal aussenden, oder wenn sie aus anderen Hirnregionen Eingangsignale empfangen und verarbeiten. Eine Klärung dieser Frage durch zeitgleiche elektrophysiologische Messungen schien unmöglich, da sich zum Beispiel die Elektrodenableitung aus den Zellen und das Magnet-Resonanz-Verfahren gegenseitig stark beeinflussen. Dieses Manko konnte das Tübinger Team jedoch durch Verwendung von Spezialelektroden und mit Hilfe einer ausgeklügelten Datenverarbeitung beseitigen, so dass sich jetzt beide Methoden gleichzeitig im Tierversuch anwenden lassen. Ein Vergleich der dabei gewonnenen Messdaten führte zu der Erkenntnis, dass das fMRT-BOLD-Bild nicht das Ausgangssignal der Nervenzellen, d.h. die neuronale Aktivität, widerspiegelt, sondern vorwiegend von dem Eingangssignal und dessen lokaler Verarbeitung bestimmt wird (s. MPG-Pressemitteilung 47 /2001 vom 11. Juli 2001 [1]).
Die Gertrud Reemtsma Stiftung wurde 1989 von Gertrud Reemtsma in Gedenken an ihren verstorbenen Bruder, den Neurologen Prof. Dr. Klaus Joachim Zülch, ehemaliger Direktor der Kölner Abteilung des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Frankfurt, mit dem Ziel gegründet, die Erinnerung an das Lebenswerk ihres Bruders wach zu halten und besondere Leistungen in der neurologischen Grundlagenforschung anzuerkennen und zu fördern. Gertrud Reemtsma war schon Ende der 1930er Jahre mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch in Verbindung getreten: Klaus Joachim Zülch, der dort als Neuropathologe und Neurologe arbeitete, holte seine Schwester als Sekretärin an das Institut. Nach dem Krieg war Gertrud Reemtsma ein große Förderin der Max-Planck-Gesellschaft - und zwar nicht nur seit 1964 als Förderndes Mitglied, sondern auch über finanzielle Zuwendungen für die von ihrem Bruder geleitete Kölner Forschungsabteilung. Anfang 1996 verstarb sie im 80. Lebensjahr in Hamburg.