Entwicklungspotenziale erkunden
Die Entwicklung menschlichen Verhaltens im Lebenslauf
Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen ändern sich im Lauf des Lebens. Den Spielraum dieser Veränderungen (Plastizität) zu erforschen hilft uns, Entwicklungen gezielt zu fördern – etwa in der Kindererziehung oder beim Erhalt der geistigen Fitness im Alter. Die erfolgreiche Erforschung von Verhaltensänderungen im Lebensverlauf bedarf langfristiger multidisziplinärer Untersuchungen.
Dass sich der Mensch flexibel auf wechselnde Umstände einstellen kann, war stammesgeschichtlich gesehen eine entscheidende Voraussetzung für das Überleben unserer Gattung. Bis heute macht jedes Individuum einen permanenten Wandel durch, körperlich ebenso wie psychisch. Über die gesamte Lebensspanne hinweg – vom Embryonalstadium im Mutterleib bis ins hohe Alter – prägen und verändern uns zahlreiche Einflüsse. Gehirn, Verhalten und Umwelt stehen dabei in ständiger Wechselwirkung miteinander1 (Bild 1).
Reifung, Altern und Lernen
Drei grundlegende Mechanismen tragen besonders zur geistigen Entwicklung im Lauf des Lebens bei: Reifung bezeichnet Wachstumsprozesse, die vor allem Kindheit und Jugend prägen und in gewissem Umfang vorgezeichnet sind2. In späteren Lebensabschnitten gewinnen Abbauprozesse an Bedeutung, die wir unter dem Schlagwort Altern zusammenfassen. Lernen schließlich – also der Erwerb neuen Wissens und neuer Fertigkeiten – findet in allen Lebensphasen statt. Reifung, Altern und Lernen beeinflussen sich im gesamten Lebensverlauf und sind ihrerseits an Rahmenbedingungen wie Anregungen durch das soziale Umfeld oder die Ernährungsweise geknüpft.
Die Erforschung der Verhaltensentwicklung im Lebensverlauf widmet sich diesen Mechanismen. Dabei ergründeten Forscher Fragen der Wahrnehmung, der Motorik, des Denkens, Fühlens oder Handelns bislang meist isoliert voneinander. Tatsächlich aber hängen unsere Fähigkeiten und Potenziale auf all diesen Funktionsbereichen stark voneinander ab. Veränderungen müssen daher tunlichst über verschiedene Funktionsbereiche hinweg betrachtet werden.
Zweitens gilt es, jene Zeitfenster zu erkennen, in denen sich psychologische Anpassungen vollziehen. Manche Veränderungen dürften in unterschiedlichem Alter ähnlich verlaufen; andere dagegen besitzen je nach persönlicher Disposition und Lerngeschichte womöglich unterschiedliche Dynamiken3. Außerdem gibt es alterstypische Phänomene wie die Pubertät oder die so genannte Midlife-Crisis. Nur wenn wir genauer verstehen, unter welchen Bedingungen eine dauerhafte Verhaltensänderung eintritt, lassen sich Entwicklungen mit einiger Sicherheit vorhersagen und positiv beeinflussen.
Drittens müssen die Forscher kausale Erklärungen finden: Was ist die Ursache für eine Verhaltensänderung? Dies lässt sich meist nur dann sinnvoll beantworten, wenn wir auch die zu Grunde liegenden Prozesse im Gehirn sowie genetische Faktoren mit in Betracht ziehen. Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen psychologischen Merkmalen – etwa dem individuellen Lernvermögen – und biologischen Mustern wie der Aktivität bestimmter Gehirnareale sind dabei kaum zu erwarten. Denn viele Verhaltensmuster kann das Gehirn auf mehr als eine Weise hervorbringen.
Angesichts dieser Hürden erfüllen Studien zur Verhaltensentwicklung über die Lebensspanne idealerweise drei methodische Kriterien: Sie sollten das Individuum innerhalb seiner physischen und sozialen Umwelt betrachten, sie sollten die individuelle Plastizität unter verschiedenen Einflüssen erkunden4,5 (Bild 2), und sie sollten psychologische, neuronale sowie genetische Parameter über verschiedene Zeitfenster und Funktionsbereiche hinweg untersuchen. Natürlich kann nicht jede empirische Untersuchung all dies berücksichtigen. Doch je mehr davon in die Studienplanung einfließt, desto größer ist der zu erwartende Wissenszuwachs. Und nur dieser wird uns in die Lage versetzen, die lebenslange Entwicklung des Menschen besser zu verstehen und positive Veränderungen herbeizuführen.
Eine Reihe neuerer Untersuchungen wird einigen der genannten Kriterien bereits gerecht. So erkundeten Wissenschaftler, wie der Alternsprozess die Fähigkeit von Menschen beeinflusst, komplexe sensomotorische Aufgaben zu bewältigen6. Die Forscher baten Erwachsene im Alter von 20 bis 30 beziehungsweise 60 bis 70 Jahren, sich eine Wegstrecke zu merken. Dazu liefen die Probanden mit Hilfe eines Laufbands durch eine virtuelle Realität, die auf eine Leinwand projiziert wurde. Die Hälfte der Probanden jeder Altersgruppe durfte sich beim Laufen an einem Geländer festhalten, die andere lief ohne Hilfsmittel. Resultat: Ältere Probanden, die sich nicht am Geländer festhalten durften, lernten die Wegstrecke wesentlich langsamer; bei den jüngeren hingegen gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen. Offenbar beansprucht das Gehen ohne Hilfsmittel im Alter größere Aufmerksamkeit – was zu Lasten anderer Tätigkeiten wie dem Lernen neuer Wegstrecken gehen kann.
Eine andere Untersuchung ging der Frage nach, wie flexibel die Gedächtnisleistung in unterschiedlichen Lebensphasen ist7. Gruppen von Kindern, jungen und älteren Erwachsenen erlernten zunächst eine Gedächtnistechnik. Vor und unmittelbar nach dem Merktraining schnitten Kinder und ältere Erwachsene in etwa gleich gut ab. Die älteren Erwachsenen profitierten jedoch weniger von zunehmender Übung. Bei einem Nachtest knapp ein Jahr später erzielten die Schüler deutlich bessere Ergebnisse, die Merkleistung der älteren Erwachsenen hatte gegenüber dem ersten Lernen nachgelassen. Die Senioren mussten den Umgang mit der Gedächtnistechnik erst wieder auffrischen. Zugleich waren die individuellen Unterschiede innerhalb jeder Altersgruppe sehr groß, das heißt, es gab in jedem Altersbereich Personen mit höheren und niedrigeren Lernleistungen.
Der integrative Ansatz zählt
Andere viel versprechende Studien vergleichen beispielsweise unterschiedliche Geburtskohorten hinsichtlich der Frage, unter welchen Umständen kurzzeitige Fluktuationen des Verhaltens auf dauerhafte Änderungen schließen lassen. Oder sie betrachten, wie sich bestimmte Gene abhängig vom Alter des Individuums auf dessen kognitive Fähigkeiten auswirken. Bei all dem gilt es, die traditionelle Kluft zwischen Natur- und Sozialwissenschaft zu überwinden. Nur ein integrativer Ansatz unter Beteiligung verschiedener Disziplinen wie Psychologie, Neurobiologie und Verhaltensgenetik kann die Plastizität über die Lebensspanne umfassend ergründen.
Dazu bedarf es allerdings auch methodischer Fortschritte, die auch ganze Haushalte berücksichtigen8,9. So brauchen wir umfangreichere und langfristig angelegte Gruppenvergleiche. Durch Zusammenstellung großer Vergleichsgruppen eineiiger und zweieiiger Zwillinge sowie anderer Geschwisterkonstellationen können die Wirkungen von Genen einerseits und Umweltfaktoren andererseits unterschieden sowie deren Wechselwirkungen erkundet werden. Reihenuntersuchungen verschiedener Geburtsjahrgänge helfen zudem, Veränderungen des Denkens und Handelns von Menschen im historischen Kontext zu betrachten. Stammen die Probanden darüber hinaus noch aus verschiedenen Ländern, lassen sich dabei Kulturunterschiede aufzeigen.
Auf den demographischen Wandel muss auch die Wissenschaft reagieren10. So sollten wir noch genauer die Begleiterscheinungen und Folgen der gestiegenen Lebenserwartung sowie die besonderen Stärken und Schwächen älterer Menschen untersuchen. Die Erforschung der Verhaltensentwicklung im Lebensverlauf leistet dazu einen wesentlichen Beitrag.
Integrierte, multidisziplinäre Ansätze bieten bei der Erforschung der individuellen Verhaltensentwicklung im Verlauf des Lebens enorme Vorteile. Allerdings benötigt man dafür Arbeitsgruppen aus den unterschiedlichsten natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie experimentelle Interventionsmethoden mit Längsschnittstudien. Mehrere Max-Planck-Institute haben solche Untersuchungen initiiert. Ein Beispiel dafür sind die Berliner Altersstudien, die vom MPI für Bildungsforschung koordiniert werden (Lindenberger et al., Die Berliner Altersstudie, 3. Aufl., Akademie Verlag Berlin, 2010).