Big Science

18. Oktober 2010

In der Großforschung geht es um die Grundbausteine der Materie, um die Anfänge des Universums, aber auch um die Erschließung neuer Energiequellen. Dafür müssen finanzielle und personelle Ressourcen auf internationaler Ebene gebündelt werden. Planung, Bau und Betrieb von derlei Großprojekten nehmen oft Jahrzehnte in Anspruch.

Apparaturen, die auf einen Tisch passen, prägten bis vor wenigen Jahrzehnten das Bild der Laborforschung. Doch mittlerweile erfordert die Untersuchung der grundlegenden Rätsel der Natur immer aufwändigere Versuchsanordnungen. Manche übersteigen die Möglichkeiten einzelner Institute oder sogar Länder – sie lassen sich nur verwirklichen, wenn mehrere Staaten jahrelang gemeinsam daran arbeiten. Die hier beschriebenen Projekte aus der Physik verdeutlichen die heutige Dimensionen der Großforschung.

Im Jahr 2008, nach 15 Jahren Bauzeit, nahm das Europäische Teilchenforschungs­zentrum CERN nahe Genf die größte Forschungsanlage der Welt in Betrieb – den Large Hadron Collider (LHC)1. Tausende von Technikern und Wissenschaftlern installierten den über drei Milliarden Euro teuren Teilchenbeschleuniger in einem ringförmigen Tunnel mit 27 Kilometer Umfang in rund 100 Meter Tiefe.

Vor allem Protonen, also Bausteine des Atomkerns, sollen hier auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, so dass schließlich je zwei Partikelbündel in entgegengesetzter Richtung durch den Tunnel rasen. Wenn sie miteinander kol­lidieren – etwa 40 Millionen Mal pro Sekunde –, entsteht eine Art Feuerwerk im Mikrokosmos. Die Forscher beobachten dabei mittels haushoher Detektoren unzählige neue Teilchen, von denen viele gleich wieder in andere Partikel zerfallen. Da sich dies fortsetzt, entstehen ganze ­Teilchenschauer. Bei den Kollisionen ­treten so hohe Energiedichten auf, wie sie 0,000 000 000 000 000 000 1 Sekunden nach dem Urknall herrschten! Die Forscher hoffen, auf diese Weise auf neue Elementarteilchen und neue fundamentale Naturgesetze zu stoßen.

Der LHC stellt die Ingenieure vor rie­sige Herausforderungen: Unter anderem müssen sie Tausende von metergroßen Hochleistungsmagneten aus supraleitendem Material auf minus 271 Grad Celsius kühlen – die gleiche Temperatur wie in den dunkelsten Zonen des Weltalls. Ende 2009 registrierten die vier gigantischen Detektoren erste Daten – und läuteten damit eine neue Ära der Teilchenphysik ein. Der größte dieser Detektoren, ATLAS2,3, wiegt mehr als 7000 Tonnen und ist das Gemeinschaftswerk von 2800 Wissenschaftlern aus rund 160 Instituten in 36 Ländern. Er registriert die Flugbahnen und Energien der aus der Kollisionszone herauslaufenden Teilchen und erlaubt so Rückschlüsse auf die Identität der Partikel.

In den nächsten Jahren soll dies wichtige Fragen klären helfen: Warum verfügen Teilchen über eine Masse? Besitzt unsere Welt verborgene Raumdimensionen? Aus welchen Partikeln besteht die rätselhafte »Dunkle Materie«, die für unsere Teleskope unsichtbar bleibt? Sie kommt im Universum um ein Vielfaches häufiger vor als »normale« Materie und hat die Entwicklung des Alls seit dem Urknall maßgeblich mitbestimmt.

Ein weiteres Beispiel: Seit 20 Jahren liefert das Weltraumteleskop Hubble einzigartige Bilder des Universums. Mehr als 8500 wissenschaftliche Arbeiten beruhen bis heute auf seinen Daten. Doch nun hat es Konkurrenz bekommen: Auf dem 3200 Meter hohen Mount Graham in Arizona ist das Large Binocular Telescope (LBT) entstanden, dessen Bilder zehnmal so scharf sein werden wie die von Hubble. Die beiden Spiegel des LBT messen je 8,4 Meter und sind die größten, die jemals aus einem Stück gefertigt wurden. Schaltet man sie zusammen, erhöht sich das Auflösungsvermögen auf das eines normalen Spiegelteleskops mit fast 23 Meter Durchmesser! So lassen sich mit dem LBT extrem massereiche Schwarze Löcher in den Zentren von Galaxien, die Anfänge der kos­mischen Expansion oder die Geburt von Sternen und Planeten außerhalb unseres Sonnensystems erforschen. Vielleicht stoßen die Astronomen dabei auch auf Zwillinge des Planeten Erde.

Mikrometergenau in Form

Errichtet wurde das weltgrößte, rund 100 Millionen Dollar teure optische Teleskop, das im Jahr 2012 vollständig in Betrieb gehen wird, von US-amerikanischen, italienischen und deutschen Forschungsinstituten4,5. Das LBT stellt gewaltige technische Anforderungen – schließlich soll es vom Erdboden aus die Fähigkeiten eines Weltraumteleskops übertreffen. Eine 650 Tonnen schwere Montierung hält die beiden Spiegel mikrometergenau in Form, denn wenn sie sich unter ihrem eigenen Gewicht verbiegen, leidet die Bildqualität. Rund 1000-mal in der Sekunde greift eine »adaptive Optik« ein, um die störenden Einflüsse wabernder Luftmassen in der Atmosphäre auszuschalten.

Eine wichtige Rolle spielen Großforschungsprojekte auch für Fragen, die unsere Lebenswelt betreffen. Lassen sich etwa die Energie liefernden Prozesse innerhalb der Sonne auch auf der Erde nutzen? Die Fusionsvorgänge im Innern unseres Zentralgestirns versuchen Forscher unter kontrollierten Bedingungen nachzuahmen und errichten dazu im französischen Kernforschungszentrum Cadarache den rund 15 Milliarden Euro teuren Versuchsreaktor ITER68. Während ein typisches Kohlekraftwerk jährlich drei Millionen Tonnen Kohle verbraucht und fast viermal so viel Kohlendioxid freisetzt, würde ein Fu­sionskraftwerk mit gleicher elektrischer Leistung lediglich 100 Kilogramm des Wasserstoffisotops Deuterium und wenige Tonnen Lithium benötigen – und überhaupt keine Treibhausgase freisetzen.

An ITER sind Europa, China, Japan, Korea, Indien, Russland und die USA beteiligt. In der 20 000 Tonnen schweren Anlage sollen einmal 600 Kubikmeter Plasma auf mehr als 100 Millionen Grad Celsius aufgeheizt werden. Weil kein Material existiert, das diesen Temperaturen standhält, muss das Plasma durch starke supraleitende Magnete eingeschlossen werden – doch selbst dann bleibt ITER eine enorme Herausforderung. In Betrieb gehen soll die Anlage im Jahr 2026. Rund zwei Jahrzehnte lang werden die Forscher die Technik erproben, um dann für den Bau des ersten Fusionskraftwerks gerüstet zu sein.

Egal, ob es um die größten Geheimnisse des Universums geht oder um neuartige technische Lösungen zur Befriedigung des globalen Energiebedarfs – Probleme dieser Art dürften in Zukunft immer mehr Großprojekte erfordern. Verwirklichen lassen sie sich nur in internationaler Zusammenarbeit. Die personellen, finanziellen und technologischen Voraussetzungen ­dafür zu schaffen, wird allein nicht aus­reichen – hier ist auch die Diplomatie gefordert: Allein über die Frage, an welchem Ort ITER gebaut werden soll, wurde jahrelang diskutiert. Doch im Gegenzug liefern Großprojekte einzigartige Perspektiven für die Hochtechnologie und für Generationen von Spitzenforschern.

Am Max-Planck-Institut für Physik wurden wesentliche Bauteile des ATLAS-Detektors entwickelt und gebaut (Aad, G. et al., J. Instrum. 3, S08003, 2008). Forscher des Max-Planck-Instituts für Astronomie entwarfen die interferometrische Nahinfrarotkamera für das Large Binocular Telescope (Rix, H.-W. & Herbst, T.M., unveröff. Beob.). Die am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik erdachte Plasmahaltung eignet sich für den Einsatz im International Thermonuclear Experimen­tal Reactor (Gruber, O. et al., Plasma Phys. Control. Fusion 47, B135, 2005).

Zur Redakteursansicht