Eine neue Regel fürs Leben

Die Kartierung von Größe und Anzahl der Zellen des Körpers gibt Einblicke in die mathematische Ordnung im menschlichen Organismus

11. Oktober 2023

Die Zellen im menschlichen Körper haben ganz unterschiedliche Formen und Funktionen: Zellen in der Haut sehen ganz aus anders als diejenigen in Organen oder die Neuronen im Gehirn und den Nervenbahnen. Doch so verschieden sie auch sind, sie gehorchen einem überraschenden Gesetz. Denn Ihre Größe ist annähernd umgekehrt proportional zu Ihrer Anzahl. Das hat ein internationales Team um Forschende des Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften festgestellt, als es die Größe und Häufigkeit aller Zelltypen im Körper kartierte. Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Größe und Anzahl von Individuen lässt sich in der Natur häufiger beobachten. Dass er auch in der Zellbiologie gilt, könnte das Verständnis vom menschlichen Organismus verbessern und damit auch medizinisch relevant sein.
 

Wenn Forschende Unterschiede zwischen Zellen untersuchen, betrachten sie heute meistens deren molekulare Bestandteile. Das Team um Ian Hatton, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, verfolgte dagegen einen klassischen zellbiologischen Ansatz. Die Forschenden analysierten etwa die Länge, den Durchmesser, die Masse und die Anzahl der Zellen eines erwachsenen Manns, einer Frau und eines Kindes. „Zum ersten Mal haben wir systematisch die Größe und Häufigkeit von Zellen in allen wichtigen Geweben und Organen gemessen, von winzigen roten Blutkörperchen bis hin zu großen Muskelfasern", sagt Ian Hatton. Zudem integrierten die Forschenden histologische sowie anatomische Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte. Auf diese Weise stellten sie einen umfangreichen Datensatz zu über 1200 verschiedenen Zellgruppen aus über 60 Gewebesystemen zusammen.  

Die Zellgröße als medizinischer Marker

Das Team entdeckte dabei einen auffälligen Zusammenhang zwischen Größe und Häufigkeit der Zellen, der auf einen Zielkonflikt zwischen den beiden Variablen hindeutet: Je größer die Zellen sind, desto geringer ist ihre Anzahl. Daher tragen Zellen aller Größen gleichermaßen zur Biomasse des Körpers bei. Zwei Ausreißer gibt es allerdings von dieser Regel: Die gestreiften Muskelzellen der Skelettmuskulatur tragen fast die Hälfte zur zellulären Biomasse bei, und abhängig vom Körperbau können die Fettzellen daran ebenfalls einen überdurchschnittlich großen Anteil haben. Offenbar gibt es also keine Zellgröße, die universell als optimal gelten kann. Vielmehr richtet sich die optimale Größe einer Zelle nach deren Funktion. So stehen Zellgröße und Stoffwechselaktivität in direktem Zusammenhang. Daher wird die Größe in der Medizin oft auch als Marker verwendet, ob eine Zelle gesund ist. Wenn Zellen eines Typs in ziemlich unterschiedlicher Größe auftreten, liegt das daran, dass sie optimal an ihre Umgebung angepasst sind. Zum Beispiel sind Muskel- und Sinneszellen im Gesicht kleiner als in den Beinen. Bei den Zelltypen, deren Größe nicht stark von ihrem Platz im Körper abhängt, schwanken die Abmessungen in etwa demselben Maße, wie das Team festgestellt hat. Das deutet auf universelle Mechanismen zur Regulierung der Zellgröße hin.

„Der Körper weist Muster auf, die an die Naturgesetze vieler Systeme erinnern, von Ozeanen bis zu Asteroiden", so Hatton. So hat ein Team um Ian Hutton in einer Studie von 2021 nachgewiesen, dass von einer Art von Meereslebewesen umso weniger gibt, je größer sie sind. In intakten Meeresökosystemen ist der Anteil der Meeresbewohner an der gesamten Biomasse in den Ozeanen daher auch für alle Gewichtsklassen gleich. Vor allem durch Fischfang hat die Menschheit die großen Tiere jedoch stark dezimiert, sodass dieser Zusammenhang heute nur noch eingeschränkt gilt.

Der Zellkatalog könnte die medizinische Diagnostik verbessern

Da die Größe und Anzahl von Zellen unmittelbar von deren Wachstum und Teilung abhängt, könnte der Zusammenhang zwischen beiden Merkmalen auch medizinische Bedeutung haben. „Ein besseres Verständnis der mathematischen Regeln könnte Schlüsselprinzipien von Zellwachstumsprozessen aufdecken, die für Entwicklungsvorgänge, Krebs, Regeneration und Alterung relevant sind." Der umfassende Zellkatalog bietet Biologen eine neue Quelle, um molekulare Studien zu kontextualisieren und zu einem besseren Verständnis der Prozesse im Organismus zu gelangen. Dabei gewonnenen Erkenntnisse könnten auch in der medizinischen Diagnostik und bei der Modellierung von Krankheitsverläufen Anwendung finden.

„Unsere ganzheitlich angelegte Kartierung dient als Grundlage für einen menschlichen Zellatlas ", resümiert Hatton. Die Studie unterstreiche, wie wichtig es ist Zellen in ihrem physiologischen Kontext als Teil eines komplexen, aber unter anderem nach Größe und Anzahl geordneten Systems zu betrachten. Damit auch Kolleginnen und Kollegen die Ergebnisse zu Größe und Anzahl der Zellen leicht nutzen können, hat das Team seine umfangreichen Daten über ein interaktives Online-Tool zugänglich gemacht. In diesem sind nicht nur die Eigenschaften von Zellen wie Größe, Masse und Anzahl in verschiedenen Geweben und Zelltypen zu finden, sondern auch die Quellen, aus denen die Daten stammen, und die Methoden, mit denen sie erfasst wurden.

MPIMN/PH

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